0766 - Das Grauen von Grainau
keine Knochen mehr, überhaupt keine Reste, die Leiche war nicht verwest. Sie sah noch ebenso aus wie bei ihrer Beerdigung. Es gab keinen Unterschied. Bleich wie Wachs war er, lag auf dem Rücken, die Arme in die Seiten gestemmt, wie jemand in einer Wartestellung.
Mario konnte auch das Gesicht sehen.
Ebenfalls eine Maske. Bleich trat die spitze Nase hervor. Es schien eine Puppe gewesen zu sein, die jemand in das Grab hineingelegt hatte, aber Mario wußte, daß vor ihm ein Toter lag. Jemand, der nicht hatte verwesen können, weil es bestimmte Kräfte gab, die sich dagegen stemmten.
Etwas jedoch war anders.
Dieser Leiche fehlte ein Auge. Es war das rechte Auge, das er verloren hatte. Nur war es nicht weggerollt oder irgendwo verschwunden, es befand sich noch im Besitz des Toten. Er hielt es in der Faust, aber so, daß es noch teilweise zu sehen war.
Mario wunderte sich. Er zwinkerte einige Male mit den Augen. Das tat er immer, wenn er etwas nicht sofort begriff. Er konnte keine Erklärung dafür finden, aber er ging davon aus, daß der Raub des Auges etwas zu bedeuten hatte.
Zwischen ihm und dem Toten gab es eine Verbindung. Er spürte den Drang, der sich aus der Tiefe erhob und auch ihn erreichte. Es war ein Band, das sie vereinigte. Der Tote war ihm fremd, und doch spürte er keine Furcht.
Sie gehörten zusammen - beide…
Er verhielt sich still, atmete nur leise durch die Nase. Im Schein der Kerzen hatte sein Körper etwas Unförmiges bekommen. Es sah so aus, als hätte sich auf dem Grab ein Tier niedergelassen, das verzweifelt versuchte, an den Inhalt heranzukommen.
»Er ist nicht verwest«, flüsterte Mario. »Er hat es geschafft. Ich wußte es…«
Da bewegte sich der Tote!
Marios Worte erstickten. Er hatte mit dieser plötzlichen Bewegung nicht gerechnet. Er konnte in den nächsten Sekunden nichts begreifen, denn eigentlich hätten auf dem Toten mehrere Kubikmeter Erde liegen müssen, doch er handelte, als wären sie gar nicht vorhanden. Vielleicht waren sie es auch nicht, denn sonst hätte Mario nicht bis auf den Grund des Grabs schauen können. Jedenfalls waren hier die Gesetze der Physik auf den Kopf gestellt worden.
Der Junge warf noch einen Blick in das Gesicht des Toten. Er wollte mehr von ihm sehen, und er konnte genau erkennen, daß er es hier mit einem Weißen zu tun hatte. Das Alter des Toten war kaum zu schätzen. Da er als normaler Soldat gedient hatte, konnte es nicht hoch gewesen sein. Der Kopf lag etwas auf der Seite. Wangenknochen traten scharf hervor, eine hohe Stirn und fahle Haare, die auf dem Schädel klebten wie eine Fettschicht. Hinzu kam die leere Augenhöhle.
Das andere Auge stand offen. Der Junge sah nur einen Teil davon. Es erinnerte ihn an eine schmutzige Glasscherbe, die plötzlich zuckte. Auch eine Reaktion auf die Bewegung des linken Arms.
Den hob die Leiche an!
Mario rührte sich nicht. Er spürte keine Abscheu, er spürte auch keine Begeisterung, er stand nur unter einem wahnsinnigen Druck und war gespannt, wie es weitergehen würde. Wenn sich der Tote bewegte, dann mußte er etwas damit bezwecken. Mario konnte sich sogar vorstellen, daß es ihm in seinem Gefängnis nicht mehr gefiel und er nun versuchte, an die Oberfläche zu gelangen.
Doch dem stand der zweite Tote im Weg. Der Gärtner lag oder schwebte genau über ihm. Er bildete ein Hindernis, an dem sich der Zombie nicht vorbeidrängen konnte.
Als Mario der Begriff Zombie durch den Kopf fuhr, spürte er auch das kalte Rieseln auf seinem Rücken. Bisher hatte er von den lebenden Toten nur gehört, sie hatten eigentlich bei ihm zur Theorie gezählt, nun aber bekam er alles mit.
Das war schon Wahnsinn, das war unfaßbar, aber irgendwo auch wunderbar, und er fühlte sich von diesen ersten Bewegungen regelrecht angemacht. Seine Lippen waren fest zusammengepreßt, als wollte er auf jeden Fall eine akustische Reaktion unterdrücken. Sein Blick brannte, er zitterte, und er hatte die Hände zu Fäusten geballt.
Was würde der Tote tun?
Er schaute sich um. Es war für ihn wichtig, daß er auf dem Friedhof allein war. Keine Zeugen, noch nicht. Niemand sollte schon zu früh gewarnt werden.
Der Schein hüllte ihn ein. Mario kam sich vor wie auf dem Präsentierteller. Es gefiel ihm nicht, denn in der Dunkelheit war das Licht sehr weit zu sehen, aber er konnte es auch nicht ändern, denn das Kerzenlicht hatte dazugehört.
Der Junge sah keinen weiteren Besucher. In der stillen, nächtlichen Friedfertigkeit lagen die
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