0788 - Herr der Insekten
konnte er plötzlich Gerüche so intensiv wahr nehmen? Optisch unterschied sie sich nicht von anderen Nasen, aber als er mit dem Finger leicht gegen einen Flügel drückte, spürte er einen starken Schmerz, der seinen ganzen Körper durchzuckte.
Vage entsann er sich, mit mehr als nur zwei Händen zugegriffen zu haben, als er das Mädchen unter sich spürte. Verwirrt zog er sein Hemd aus.
Da sprang das Grauen ihn an wie ein wildes Tier!
Er besaß nicht nur zwei Arme, sondern deren sechs!
Nur waren diese zusätzlichen Armpaare, die seitlich aus seinem Körper wuchsen, lediglich rudimentär ausgestaltet. So als müssten sie noch erheblich wachsen!
»Was passiert mit mir?«, stieß er entsetzt hervor.
Niemand konnte ihm antworten, weil niemand seine Frage hörte.
Wieso geschah diese seltsame Veränderung ausgerechnet jetzt, da er sechzehn Jahre alt geworden war? Wäre es zum Eintritt der Pubertät nicht logischer gewesen?
Was denke ich hier?, fragte er sich und fand auch darauf keine Antwort.
Was war mit Claudine geschehen?
Er war förmlich geflohen. Warum?
Weil sie tot war?
Tot!, hämmerte es in ihm. Sie ist tot, tot, tot…
Hatte er sie umgebracht?
Aber er war doch nur zärtlich zu ihr gewesen. Er hatte sie geliebt und…
Plötzlich hörte Van Stimmen. Polizei war im Haus…!
Natürlich. Gaudian musste sie gerufen haben, seine Ermittler. Denn es war nicht davon auszugehen, dass niemand Claudines panischen Schrei gehört hatte.
Und er, Van Yol, war wohl der Einzige, der sich nicht dort unten blicken ließ. Damit machte er sich doch verdächtig! Gerade er als Gastgeber musste doch Präsenz zeigen.
Mühsam kleidete er sich wieder an und war überrascht, wie perfekt seine Kleidung die beiden zusätzlichen Armpaare kaschierte. Als er wieder in den Spiegel blickte, sah er ganz normale Augen!
War er nur einer Halluzination unterlegen?
Er straffte sich, checkte noch einmal den Sitz seiner Kleidung und konnte die Zusatzarme darunter nicht fühlen.
Er verließ das Bad - und prallte fast mit seinem Vater zusammen.
»Was ist los mit dir, Van?«, wollte der wissen. »Alles in Ordnung?«
»Alles okay«, log Van und dachte: Lass mich doch einfach in Ruhe!
»Wenn du meinst«, sagte Daro und wandte sich ab.
***
Es war für Zamorra kein Problem, die Villa am Stadtrand von Lyon zu finden. Er kannte sich in der Stadt einigermaßen aus, und die Angabe der Adresse durch den Staatsanwalt hatte genügt, den Computer eine zusätzliche Wegbeschreibung für die Navigation des BMW erstellen zu lassen.
Er bog auf die Zufahrt ein. Uniformierte Beamte wollten ihn stoppen. Er zeigte kurz seinen Ausweis vor und wurde gleich weiter geleitet. Vor der Eingangstreppe der Villa standen mehrere Polizeiwagen, ein Bestatterfahrzeug, ein Porsche Carrera und ein Rolls-Royce Silver Shadow aus den siebziger Jahren.
Zamorra schmunzelte, als er den Citroën XM sah. Pierre Robin fuhr immer noch seinen betagten Dienstwagen. Seit Jahren schon beantragte er einmal pro Quartal die Zuteilung eines neuen Fahrzeugs, aber offenbar hielt man die Mordkommission Lyon in Paris für technisch genügend ausgestattet; jedenfalls wurde jeder Antrag abgelehnt. Vermutlich würde Robin den Wagen fahren müssen, bis der zu Roststaub zerfiel.
Zamorra stellte den BMW standesgemäß neben dem Rolls-Royce ab. Er und Nicole stiegen aus. Einer der Uniformierten winkte und wies auf einen Plattenweg, der um die Villa herum führte. Wenig später trafen die beiden Ankömmlinge auf Gaudian und Robin mit seiner Truppe.
Sie hielten sich nicht mit einer langen Begrüßung auf, obgleich sie sich seit Monaten nicht gesehen hatten. Es galt, die Tote und ihre Umgebung in Augenschein zu nehmen und auf magische Einflüsse hin abzuchecken, und das möglichst schnell; die Wärme des Sommerabends tat dem Leichnam sicher nicht gut.
Zamorra ließ sich erzählen, was den Zeugenaussagen zufolge geschehen war.
»Insekten?«, staunte er und hielt ein solches Phänomen für doch recht unwahrscheinlich. Aber war das Unwahrscheinliche nicht schon immer das Nächstliegende gewesen?
Zumindest bei Vorfällen, mit denen er zu tun hatte.
Und das seit drei Jahrzehnten, die man weder ihm noch seiner Gefährtin ansah. Irgendwann würden sie sich etwas einfallen lassen müssen, weil es nicht normal war, dass Menschen, die die sechzig erreicht oder überschritten hatten, immer noch aussahen wie Ende zwanzig bei Nicole und Ende dreißig bei Zamorra.
Er näherte sich der Toten, über die
Weitere Kostenlose Bücher