0949 - Das Kind, das mit den Toten sprach
Sie haben mir auch davon berichtet, welchem Beruf er nachgeht, und ich finde, daß es wichtig ist, wenn ich ihn aufsuche und mich einmal mit ihm über gewisse Dinge unterhalte.«
»Über den Spiegel.«
»Zum Beispiel.«
»Trauen Sie ihm nicht?«
Ich hob die Schultern. »Erwarten Sie bitte keine konkrete Antwort. Ich weiß es nicht. Ich kenne ihn nicht. – In einem persönlichen Gespräch wird man immer mehr erfahren.«
»Dann müßte ich Ihnen sagen, wo Sie ihn finden können.«
»Das wollte ich hören.«
Ellen Bates beugte sich vor und drückte ihre Handflächen gegen die Wangen. »Er lebt sehr zurückgezogen in einer sehr großen Wohnung. Wenn mich nicht alles täuscht, waren diese Räume nicht immer nur als Wohnung gedacht. Früher war dort eine Bibliothek untergebracht. Aus Kostengründen mußte sie geschlossen werden. Das Haus wurde dann umgebaut. Es entstanden Wohnungen, die allesamt teuer vermietet wurden. In einer davon lebt mein ehemaliger Mann.«
»Wo genau?«
Sie kannte die Anschrift auswendig. Nach einer Wiederholung hatte ich sie ebenfalls behalten. Natürlich wollte Ellen Bates wissen, was ich mir bei einem Besuch vorgenommen hatte, und sie fragte auch, ob es dabei nur um ihre Tochter gehen würde.
»Wahrscheinlich nicht. Ich möchte mir auch über Ihren ehemaligen Gatten ein Bild machen.«
»Bild machen?« flüsterte Ellen. »Wissen Sie, wie sich das anhört, Mr. Sinclair?«
»Nein, aber Sie werden es mir sagen.«
Ellen tippte sich selbst mit dem Zeigefinger an. »Das hört sich an, als würden Sie ihn verdächtigen. Oder darauf hin ansprechen wollen, daß er eventuell auch seinen Teil am Verschwinden Marions mit beigetragen hat, da von ihm ja der Spiegel stammte.«
Ich hob die Schultern. »So drastisch dürfen Sie das nicht sehen, Mrs. Bates.«
»Aber was soll ich denn sonst denken?«
»Am besten zunächst nichts. Ich möchte nur Ihre Tochter finden und sie Ihnen wieder heil und gesund zurückbringen. Nicht mehr und nicht weniger.«
»Das wäre gut«, flüsterte sie.
»Eben.«
»Dann habe ich nichts dagegen, wenn Sie jetzt fahren. Ich werde die restlichen Stunden dieser Nacht schon herumkriegen. So ängstlich bin ich nicht. Aber Sie werden sich später wieder melden.«
»Das versteht sich.«
»Gut, sehr gut«, sagte sie und nickte. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihre Lippen. »Wieder einmal habe ich erleben müssen, daß ein menschliches Leben einer Achterbahn gleicht. Was ich meinen Patienten sage, das erlebe ich am eigenen Leibe. Mal oben, mal unten. Aber da muß man durch.«
Sie hatte sehr ruhig gesprochen, und ich wußte, daß dies allein auf die Einnahme des Valiums zurückzuführen war. In ihr selbst sah es sicherlich ganz anders aus.
»Den Spiegel können Sie ruhig mitnehmen, Mr. Sinclair. Ich will ihn nicht mehr sehen. In den letzten Minuten habe ich ihn regelrecht hassen gelernt.«
»So drastisch sollten Sie es nicht sehen.«
»Doch, ich hasse ihn!«
»Warum? Weil er Ihnen die Tochter genommen hat? Zumindest vorläufig?«
»Ja, das stimmt.«
Ich legte eine Hand auf ihren Arm und spürte das leichte Zittern.
»Um Himmels willen, ich möchte Ihnen jetzt keine theoretischen Ratschläge erteilen, Mrs. Bates, aber manchmal kann sich etwas, das zunächst sehr negativ aussieht, auch zum Guten wenden. Tun Sie diese Bemerkung nicht einfach als Spruch ab. Ich habe so etwas schon erlebt, und ich lüge Sie auch nicht an. Es muß nicht so kommen, es kann so sein.«
»Ja, wenn Sie das sagen.«
Ich stand auf. Der Spiegel befand sich in meiner Reichweite. »Ihn werde ich mitnehmen.«
»Und ihn untersuchen?«
»Ja.«
»Sie sagen mir dann Bescheid?«
»Das versteht sich.«
Auch Ellen Bates erhob sich. Sie schaute zu, wie ich den Spiegel hochnahm, der wegen seines unnatürlich dicken Rahmens doch ziemlich schwer geworden war. Ich klemmte ihn mir unter den linken Arm und ging zur Wohnungstür. Ellen blieb dicht hinter mir, ich hörte ihren heftigen Atem, und es fiel mir nicht leicht, sie allein zu lassen. Bevor ich sie noch einmal fragen konnte, öffnete sie mir die Tür und sagte: »Es ist schon in Ordnung, Mr. Sinclair, Sie brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben, wirklich nicht.«
»Da bin ich beruhigt.«
Bevor ich einen Schritt in den Flur setzte, hielt sie mich noch fest.
»Bitte, versuchen Sie alles, um meine Tochter wieder gesund und normal zurückzuholen.«
Ich lächelte ihr knapp zu. »Versprochen, Mrs. Bates, versprochen…«
***
Draußen war es
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