0964 - Königin der Toten
hat mich allein gelassen.«
Bei jedem Wort wuchs die Zahl der Schweißperlen auf Jarrels Stirn. »Du kennst doch deine Tochter. Sie hat sich auf London gefreut und ist auf Entdeckungstour gegangen. Mich alten Knacker wollte sie nicht dabeihaben, und ich weiß auch nicht, wann sie zurückkehrt. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
Er hörte noch etwas länger zu und legte schließlich auf. Jetzt wirkte er so wie jemand, der in voller Kleidung in die Sauna gegangen war. Fehlte nur noch der Dampf, der ihn einhüllte. Er bewegte seinen Mund, ohne zu sprechen. Schließlich griff er zur Ginflasche und nahm einen kräftigen Schluck. Dabei schielte er zu Sir James hinüber, der jedoch verständnisvoll lächelte. Er ahnte, was in diesem Mann vorgegangen war.
»Gratuliere, Mr. Jarrel. Das haben Sie ausgezeichnet gemacht. Das hätte nicht jeder geschafft.«
Der Mann winkte ab. »Ich bin fertig«, flüsterte er, »völlig fertig.« Er ließ sich in den Sessel fallen, »Das ist über meine Kraft gegangen. Eine schwere Geburt, und Margret hat tatsächlich nichts gemerkt.« Er schüttelte den Kopf. »Sie hat mir alles abgenommen, jedes Wort. Wenn ich darüber nachdenke, sind mir die Worte verdammt locker über die Lippengeflossen. Alles Lügen, alles verfluchte Lügen! Aber immerhin, ich habe es geschafft.«
»Der Mensch ist zu vielem fähig, wenn es sein muß«, erwiderte Sir James. »Da kann er sogar über seinen eigenen Schatten springen. So wie Sie, Mr. Jarrel. Noch einmal. Man kann Ihre Antworten nicht hoch genug einschätzen. Das meine ich ehrlich.«
»Danke, aber es bringt nicht viel. Ich habe meine Schwägerin zunächst mal beruhigen können. Sie wird wieder anrufen, und was soll ich dann sagen? Daß ihre Tochter in einer anderen Welt verschwunden ist?« Er lachte sich selbst aus. »Wenn es soweit kommen sollte, wäre es besser, wenn ich mich selbst umbringe.«
»Daran sollten Sie nicht mal denken, Mr. Jarrel. Wer sagt Ihnen denn, daß Ihre Nichte noch nicht zurück ist, wenn die Schwägerin noch einmal anruft?«
»Glauben Sie daran?«
»Ich rechne sogar damit.«
»Das sagen Sie doch nur, um mich zu beruhigen, Sir. Ich selbst kann nicht daran glauben.«
»Wir werden es abwarten.« Sir James schaute auf seine Uhr und runzelte die Stirn. »Eigentlich müßte Miß Collins jeden Moment hier auftauchen. Die Stunde ist beinahe um.«
James Jarrel beugte sich in seinem Sessel vor. »Was erhoffen Sie sich denn genau von ihr?«
»Das weiß ich selbst nicht.«
»Stellen Sie diese Person denn mit ihren beiden Mitarbeitern auf eine Stufe?«
Der Superintendent überlegte nicht lange. »Nein, so kann man das nicht sagen. Nicht immer kann ich Jane mit den beiden Männern auf eine Stufe stellen, aber sie ist schon gut, und sie kennt sich vor allen Dingen in der Materie aus,«
»Das begreife ich alles nicht, Sir. Wie Sie davon sprechen…«
»Wie meinen Sie?«
Jarrel setzte noch einmal an, dann hatte er die richtigen Worte gefunden. »Sie nehmen die unnormalen Dinge hin, als wären sie Alltag für Sie.«
»Das ist im Laufe der Jahre so entstanden…«
Der Klang der Flurklingel unterbrach Sir James. Während Jarrel zusammenschrak, erhob sich der Superintendent. »Das wird Jane Collins sein. Kann ich ihr öffnen?«
»Ich bitte sogar darum.«
Sir James zog die Tür auf und wartete auf die Detektivin im Flur. Schon als er die Schritte im Treppenhaus vernahm, huschte ein Lächeln über seine Lippen. So ging nur eine Frau, deshalb war er beruhigt.
Sekunden später erschien die Detektivin auf dem zweiten Treppenabsatz. Sie hatte den Staubmantel bereits ausgezogen und über ihren Arm gehängt. Sie trug blaue Jeans und eine Jacke mit grüngrauem Karomuster. »Sorry, daß ich nicht früher kommen konnte, Sir, aber der Verkehr war mal wieder teuflisch.«
»Das ist bekannt, Miß Collins.«
»Früher haben Sie mal Jane zu mir gesagt«, erwiderte sie und reichte ihm die Hand.
»Dann bleibe ich dabei.«
»Gut.« Jane folgte Sir James in den Wohnungsflur, wo sie James Jarrel kennenlernte und ihm sofort ansah, daß er einiges durchlitten hatte. Obwohl er sich die Handfläche am Hosenbein abgewischt hatte, spürte Jane den feuchten Druck. Das wußte auch Jarrel. Er verzog entschuldigend das Gesicht.
Auch Jane hatte ihren Mantel aufgehängt. Die drei im Flur stehenden Menschen wirkten, als hätten sie sich getroffen, um bei ein paar Flaschen Wein etwas zu feiern.
So war es in Wirklichkeit natürlich nicht, denn Janes
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