0964 - Königin der Toten
echt war oder nicht, konnte Jane nicht sagen. Jedenfalls war die Spiegelfläche dabei, sich aufzulösen. Sie gab auch kein Bild mehr wieder, sie war dunkel geworden, und dieser Vorgang blieb nicht allein auf sie begrenzt. An den Seiten veränderte sich die Farbe der Wand. Auch sie bekam ein schwaches Braun, als hätte sie sich blitzartig in ein anderes Mauerwerk verwandelt.
Jane hielt den Atem an.
Noch sah sie nichts, aber die andere Dimension griff bereits in die normale Welt hinein.
Der fremde Gestank verstärkte sich immer mehr. Ein atemberaubender Geruch nach Moder und Fäulnis, als hätte ein uralter Friedhof seine Gräber geöffnet, um die Toten zu entlassen.
Jane merkte, wie ihr dieser Geruch einen Teil ihrer Konzentration nahm. Sie fühlte den Schwindel.
Instinktiv hielt sie sich am Rand des Waschbeckens fest.
Was kam dort?
Wer kam dort?
Noch wurde die Stelle, wo sich einmal der normale Spiegel befunden hatte, von der braunen Masse überdeckt, die wie eine Lawine aus Schlamm war.
Zugleich vernahm sie ein saugendes Geräusch. Sie konnte es nicht einordnen, aber die braungraue Masse wich, als hätte man einen Vorhang zur Seite gezogen.
Jane Collins schaute durch das Tor. Sie blickte in eine andere Welt. Und was sie dort sah, entsetzte selbst sie…
***
Die Königin der Toten und wir!
Es war kaum zu fassen, aber wir hatten uns nicht verhört. So hatte sich Iris selbst bezeichnet. Wir sahen ihrem Gesicht an, daß sie am meisten darunter litt, denn immer wieder dachte sie darüber nach.
»Hören Sie, Iris«, sagte ich mit leiser Stimme. »Sie dürfen die Dinge nicht so eng sehen, verstehen Sie? Ich weiß, daß es schlimm ist, sehr schlimm sogar, aber machen Sie sich um Himmels willen keine Vorwürfe. Sie konnten nichts dazu.«
»Das sagt sich so leicht, John…«
»Ich weiß. Ich weiß auch, daß es schlimm ist. Aber richten Sie das Erlebte nicht gegen sich selbst. Das tut nicht gut. Das kann Ihnen einfach nur schaden.«
Das Licht meiner kleinen Lampe ließ ihr Gesicht noch blasser aussehen. Sie hatte den Kopf etwas angehoben, um zu lächeln, aber das gelang ihr auch nicht richtig. Es zuckten nur die Lippen. Dann gruben sich ihre Zähne in die Unterlippe.
Die Pyramide flog. Wohin, das wußten wir nicht. Wir konnten auch nichts erkennen, denn dieses Gebilde hatte ja keine Fenster. Es war ein geschlossener Raum. So waren wir den fremden Kräften ausgeliefert.
In welcher Zeit wir uns befanden, war auch nicht feststellbar. Da konnten mehrere Grenzen überschritten worden sein. Alles war möglich, und ich spürte, wie der Erdboden plötzlich vibrierte.
Möglicherweise ein Zeichen, daß wir gleich landen würden. Auch Iris hatte die Vibrationen mitbekommen. Sie hockte auf dem Sargrand, den Blick nach vorn gerichtet. Ängstlich, zugleich konzentriert.
Zeit war für uns so gut wie nicht mehr vorhanden. Wer Dimensionsgrenzen überschritt, konnte sie vergessen, und darüber machte ich mir auch keine Gedanken.
Wichtig war das Ziel.
Die Königin der Toten. So hatte Iris es uns gesagt, und wir wußten genau, daß es kein Bluff des Verfluchten gewesen war. Er hatte bisher alles eingehalten, und das würde er auch in Zukunft tun, sich durch nichts von seinen Plänen abbringen lassen.
Iris faßte mich plötzlich an. Ich hatte nicht damit gerechnet und erschrak, als ich den Druck der Finger an meinem Arm spürte. »Bitte, John, Sie müssen mir eines versprechen. Sie und auch Sie, Suko. Tun Sie das?«
»Es kommt darauf an, was ich versprechen soll«, gab ich eine vorsichtige Antwort.
»Daß Sie mich nicht allein lassen.«
Ich lachte, um Optimismus zu verbreiten. »Darauf können Sie sich verlassen, Iris. Wir waren bisher an Ihrer Seite, und wir werden es auch bleiben. Bis wir alles hinter uns haben. Bis Sie wieder bei Ihrem Onkel sind.«
»Und wenn das Grauen so schlimm wird, daß selbst Sie nichts dagegen tun können?«
»Wir sind aus diesen - Abenteuern immer heil herausgekommen«, erwiderte ich, wobei ich schon ein wenig übertrieb, aber das brauchte Iris ja nicht zu wissen. Sie sollte nicht noch mehr leiden.
»Ich denke, wir sind gelandet«, erklärte Suko trocken.
Iris ließ mich los. Sie fuhr herum und geriet als Schatten in den Lampenschein. »Was? Wirklich?«
»Ja, ich spüre nichts mehr.«
»Und Sie, John?«
»Suko wird schon recht haben, Iris. Auf ihn kann man sich wirklich verlassen.«
»Das brauchen wir jetzt auch. Jeder muß sich auf den anderen verlassen können. Ich weiß gar nicht,
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