0976 - Die Leichen der schönen Charlotte
Eine rote Decke lag darauf. Als bedruckte Motive zeichneten sich Figuren von Männern und Frauen ab, die allesamt miteinander verschlungen waren und an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig ließen.
Nach einem großen Spiegel suchte ich vergebens, dafür stand an der Wand ein geschlossener Schrank mit drei Türen und gegenüber eine Konsole, auf der ich Kondome und Papiertaschentücher sowie einige zusammengefaltete Handtücher entdeckte.
So also sah das Arbeitszimmer eines Callgirls aus. Der Geruch eines frischen Deos kitzelte meine Nase. Ich war irgendwo froh, daß ich keine Leiche gefunden hatte, wie der Hausmeister schon befürchtet hatte.
Ich trat an das Bett heran. Es sah aus wie frisch gemacht. Fleckenlos, nahezu steril.
Im Raum selbst war es ziemlich kühl. Eine angenehme Temperatur umgab mich, aber etwas störte mich.
Es war die Decke.
Ich hatte sie mir noch nicht angesehen. Beim Eintreten war sie mir mehr wie ein dunkler Schatten vorgekommen. Jetzt, wo ich beinahe am Kopfende stand, schaute ich in die Höhe.
Ja, sie war auch dunkel. Getönt in einer rötlichen Farbe, die zur Mitte hin in ein Lila überging. Und aus dieser Farbe hervor oder in sie hinein wuchs etwas, das mich erstarren ließ.
Ein Gesicht.
Das Gesicht einer Frau, die ich sogar kannte. Aber sie war kein Mensch, sie war eine der ersten und bösesten Dämoninnen, die es je gegeben hatte und leider immer noch gab.
Es war das Gesicht der Lilith!
***
Damit hatte ich den Beweis und mußte auch meinem Freund Tanner zu seiner Spürnase gratulieren, daß er gerade mir den Fall regelrecht zugeschustert hatte, denn normal lief hier nichts mehr. Da konnten wir die übliche Polizeiarbeit vergessen, denn nun ging es ans Eingemachte, und das gleich verdammt dick, denn der Anblick dieses Gesichts war keiner, über den man sich freuen konnte.
Auch ich nicht, denn auf meinen Rücken hatte sich eine kalte Haut gelegt, als ich näher über die erste Hure des Himmels nachdachte, wie sie in der Mythologie genannt wurde.
Sie paßte auch in diesen Raum hinein, denn die Mieterin der Wohnung ging dem ältesten Beruf der Welt nach.
Mist auch!
Ich dachte an die Verschwundenen und mußte mich revidieren. Waren sie nur noch verschwunden?
Allmählich konnte ich daran nicht glauben. Wahrscheinlich lebten sie nicht mehr. Das war normal, wenn Lilith ihre dämonischen Hände mit im Spiel hatte.
Ich betrachtete das Bild genauer. Auf der einen Seite zeigte es ein Gesicht, auf der anderen eine Fratze. Beide trafen sich irgendwo in der Mitte. Zudem ging von diesem Frauengesicht etwas aus, was nur schwer zu beschreiben war. Ich empfand es als eine animalische Lockung, die alle Grenzen überschritt, denn für so etwas gab es keine Tabus mehr. Typisch Lilith, die auch als erste Hure des Himmels bezeichnet wurde. Dieser Vergleich hatte sich in meinen Kopf hineingepreßt. Möglicherweise drang er auch deshalb immer so stark nach oben, weil ich im Schlafzimmer einer Hure stand.
Ich verzog bitter die Lippen. Smasch fiel mir ein. Ein widerlicher Dämon, ein Hexenfresser. Ihn hatte der Teufel persönlich gegen Lilith geschickt, um sie zu vernichten. Er hatte sie zerreißen und fressen sollen, doch er war ihrem Hexentanz nicht entkommen. Ihn hatte sie letztendlich gewonnen.
Das Gesicht unter der Decke ließ mich nicht aus seinem Bann. Ein kaltes, schönes Frauengesicht mit wirren Haaren auf der einen Seite, und dann wieder dieser dämonische Schimmer auf der anderen. Eine seltsame Dunkelheit, die von innen kam und sich nach außen drückte, legte sich als Schatten auf die Züge.
Lilith war eine Person, die faszinieren konnte. Es gab wohl kaum einen Mann, der es geschafft hätte, ihrem Bann zu entwischen, wenn sie ihn einmal über ihn gelegt hatte. Da strahlte sie diese Erotik und zugleich Dämonie aus, und auch ich spürte diese Aura über mir.
Zugleich »meldete« sich mein Kreuz. Es erlebte einen leichten Anfall von Wärme, als sollte der Begriff Vorsicht auf diese Art und Weise ausgedrückt werden.
Ich achtete nicht darauf und tat das, was sicherlich auch die Kunden der Charlotte getan hatten.
Ich belegte das Bett.
Allerdings allein. Aus den Augen ließ ich dabei das Bild an der Decke nicht. Es war relativ schwach gezeichnet, vergleichbar mit einem Gemälde im Hintergrund, doch seine suggestive Kraft hatte es auf keinen Fall verloren.
Die bohrte weiter.
Sie saß fest.
Sie zeichnete sich in den Zügen ab, lag auf dem breiten Mund, den ich betrachtete, wobei
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