10 - Das Kloster Der Toten Seelen
erwünscht bin, doch ich habe überlebt. In diesem Land wohnen immerhin Christen, und sie bringen niemanden ohne guten Grund um.«
»Allein Sachse zu sein genügt vielerorts meist. Zweifellos verschonen dich diese Hunde, weil du ein Christ bist, Eadulf«, erwiderte die Stimme. »Sag mir, ob du weißt, wo die feindlichen Krieger der Welisc stecken? Werden wir bald angegriffen?«
Eadulf dachte schnell nach. Was wäre hilfreicher? Die Wahrheit zu sagen oder zu lügen, daß die Krieger ganz in der Nähe seien? Er hatte das Gefühl, es sei besser, aufrichtig zu sein.
»Es sind keine Krieger in der Nähe, Hwicce. In diesem Land leben friedvolle Schäfer und Viehhirten.«
»Beschwörst du das? Schwörst du das bei dem Schwerte Wotans?«
Eadulf schüttelte den Kopf. »Ein Eid auf das Schwert Wotans bedeutet mir nichts. Doch ich werde auf das Kreuz Christi schwören.«
»Das geht in Ordnung. Schwörst du also?«
»Ja. Innerhalb eines halben Tagesritts befinden sich keine größeren Kriegstruppen der Welisc . Das schwöre ich beim heiligen Kreuz!«
Auf einen Befehl trat die Zweierreihe der Krieger auseinander. Die Schilde wurden abgesetzt, die beiden Reihen lösten sich auf, und auf Eadulf kam jener Krieger zu, der mit ihm gesprochen hatte. Der Mann stellte seinen Schild beiseite und nahm seinen Helm ab. Zu Eadulfs Überraschung handelte es sich um einen blonden jungen Mann, der sicher erst Anfang zwanzig war. Er hatte ein schönes Gesicht, das von tiefliegenden Augen beherrscht wurde, die so graublau waren, daß sie schon fast violett wirkten. Er war hochgewachsen, hatte eine muskulöse Figur und sah wie jemand aus, der im Kriegsberuf seine Bestimmung gefunden hatte. Eadulf waren die offenen, jugendlichen Züge seines Gegenübers sofort sympathisch.
»Sei gegrüßt in diesem Land der Welisc , Eadulf, der Christ.« Der junge Mann lächelte. »Ich bin Graf Osric aus dem Gefolge Eanfriths, des Königs der Hwicce.«
Eadulf stieg von seinem Pferd und lief ein paar Schritte auf den Grafen zu. »Sei gegrüßt, Osric von den Hwicce. Pax tecum! «
Osric lächelte wieder. »Ich kann kein Latein, Eadulf. Sprich Sächsisch. Ich bin kein Christ. Die Götter meiner Vorfahren sind gut genug für mich.«
»Ich wollte dich um ein quid pro quo bitten, doch da du kein Latein sprichst, werde ich es dir übersetzen: ›Etwas für etwas.‹ Ich habe dir mitgeteilt, daß hier keine Krieger der Welisc sind. Jetzt sag du mir im Gegenzug auch etwas.«
Osric lachte vergnügt auf. »Warst du ein Händler, ehe du in die merkwürdige Bruderschaft der Christen eingetreten bist, mein Freund?«
»Ich war nach der Erbfolge gerefa , ein Friedensrichter meines Volkes«, erklärte ihm Eadulf.
»Ein Friedensrichter. Das hätte ich wissen können«, erwiderte der junge Adlige. »Gut, handeln wir miteinander. Was möchtest du von mir wissen?«
»Was führt euch an dieses Ufer? Wollt ihr den Leuten hier Schaden zufügen?«
Osric zeigte auf den Wald. »Wir sind hier, um den höchsten Baum zu fällen, den wir finden können.«
Das war eine so unerwartete Antwort, daß er ganz verdutzt dreinschaute.
Der junge Adlige lachte. »Mein Friedensrichter-Freund«, sagte er, »das stimmt wirklich. Unser Schiff hat keinen Mast mehr, doch es ist uns gelungen, es in die Bucht hinter der Landspitze zu steuern.« Er winkte mit der Hand hinter sich. »Wir müssen einen neuen Mast bauen. Doch da dies hier das Land der Welisc ist, haben wir uns auf Auseinandersetzungen eingestellt.«
»Und deshalb habt ihr den Schlachtruf von euch gegeben?«
»Wir dachten, das würde die Leute so verängstigen, daß wir in Ruhe unseren Baum fällen könnten.«
Er drehte sich um und erteilte einen Befehl, woraufhin seine Männer in den nahe gelegenen Wald liefen und nach einem passenden Baum Ausschau hielten.
Einer von ihnen, offensichtlich der oberste Zimmermann, zeigte auf eine hohe, schlanke Eiche. Zwei Männer mit Äxten traten vor und machten sich an die Arbeit. Der Klang der Äxte hallte in der ganzen Umgebung wider. Sie verschwendeten keine Zeit und arbeiteten rasch und äußerst geschickt.
»War es euer Schiff, daß vor einigen Tagen an der Küste weiter unten vor Anker lag?« wollte Eadulf wissen.
Osric drehte sich amüsiert zu ihm um. »Eine weitere Frage? Ich dachte, dein lateinischer Händlerspruch bedeute Frage gegen Frage?«
»Wenn du noch etwas wissen willst, so bin ich gern bereit zu antworten«, erbot sich Eadulf. Ob nun Hwicce oder nicht, Heide oder nicht, es
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