1000 Kilometer auf dem 1000-jährigen Weg
lieber alleine vorbereiteten auf die morgige Ankunft in Santiago de Compostela.
Tag 34
Lavacolla / Santiago de Compostela
„Sieh zu, dass es früh am Morgen ist, wenn Du in der Kathedrale von Santiago ankommst“, hatte mir Monica eindringlich geraten, denn die Stimmung sollte zu dieser frühen Stunde ganz besonders sein und die Kirche noch nicht so überfüllt.
Nachdem ich das Hotel verlassen hatte, war es kurz nach sechs Uhr und stockfinster. Meine Taschenlampe hatte ich vor zwei Wochen in einer Herberge liegen lassen und so behalf ich mir an kritischen Stellen im Wald mit dem Blitz meines Handys. Ich wanderte durch kleine Dörfer, die noch dunkel und verschlafen waren, nur die Kühe in ihren Ställen, und vereinzelt ein bellender Hund waren zu hören. Ich war mir an verschiedenen Stellen nicht mehr sicher, ob dies noch der richtige Weg sei. Kein Pilger begegnete mir.
Meine Nervosität nahm zu. Heute Morgen war ich vor meinem Wecker wach und ohne Frühstück unterwegs. Langsam fing es an zu dämmern und ich war sehr froh, als ich an einer Hauswand den ersten gelben Pfeil sichtete und wusste, ich war hier richtig. Wieder in einem der zahlreichen Waldgebiete eingetaucht, fing im halbdunkeln das Raten an, wer oder was sich da vor einem aufhielt. Konturen tauchten auf, die geduckte sitzende Pilger sein konnten, oder ein Hund am Wegesrand. Beim Näherkommen, teils nur wenige Meter davor, erkannte ich dann aber nur einen großen Stein oder Baumstumpf.
Der Weg führte vorbei an zwei großen spanischen TV-Sendestationen, durch deren Fenster ich in den hell beleuchteten Büros die Menschen arbeiten sehen konnte.
Es schienen mir zwei völlig verschiedene Welten zu sein, die da drinnen an ihren Schreibtischen und Computern und ich hier draußen mit meinem Rucksack kurz vor meinem Pilgerziel.
Vor meiner Reise war mein Berufsleben auch von Büroarbeit bestimmt gewesen. Ich stand eine ganze Weile nur da und schaute den Menschen zu, wie sie durch die Gänge eilten mit Akten und Filmrollen unter den Armen. Von hier draußen ähnelte das Geschehen einem Ameisenhaufen.
Das erinnerte mich an meinen ersten großen Anstieg auf meiner Pilgerreise, und an die Mühe, die ich hatte, meinen damals noch zu schweren Rucksack hinauf zu schleppen. Ich stoppte und um meinen Rücken zu entlasten, beugte ich mich tief nach vorn, so dass der Rucksack gerade auf meinem Rücken lag. Ich schaute nun aus einem Meter direkt auf den Weg, die Steine und — eine Ameise. Diese Ameise trug ein Stück von einem Blatt, das doppelt so groß war, wie sie selbst. Ich erinnerte mich in diesem Moment daran, dass Ameisen ein Mehrfaches ihres eigenen Gewichtes tragen können.
„Wenn eine winzige Ameise eine solche Last locker tragen kann“, dachte ich in diesem Moment, „dann kann ich doch wohl so einen Pipi-Rucksack durch die Gegend tragen.“
Und wirklich jedes einzelne Mal, wenn ich wieder an einer Steigung erschöpft diese Stellung eingenommen hatte, war mir eine Ameise durch mein Blickfeld gekrabbelt, um mich daran zu erinnern.
Es begann richtig hell zu werden, als ich am Monte do Gozo, einem kleinen Hügel und Aussichtspunkt ankam und von hier aus zum ersten Mal in der Ferne die beiden Türme der Kathedrale sehen konnte.
Ich stand alleine an einem Denkmal, dass zu Ehren verschiedener Papstbesuche errichtet worden war und schaute auf die Stadt hinunter.
Dann vernahm ich ein Geräusch, das ich aus den Herbergen kannte und drehte mich um. Hinter einer flachen Mauer schaute das verschlafene Gesicht eines jungen Mannes, der gerade den Reißverschluss seines Rucksacks geöffnet hatte. Er grüßte zu mir rüber und begann neben sich zwei weitere, noch schlafende Pilger zu wecken. Dieser Aufbruch war auch meiner, denn ich wollte früh die Kathedrale erreichen.
Durch das Stadtgebiet von Santiago de Compostela zog es mich an einer übersichtlichen Beschilderung in die Altstadt. Nachdem ich mich fast in ein paar kleinen Gässchen verlaufen hatte, stand ich auf einmal vor der Kathedrale, aber ich sah keinen Eingang. So lief ich um die nächste Ecke des riesigen Gebäudes und — hier war auch kein Eingang. Die Situation kam mir merkwürdig vor.
Nach nunmehr neunhundert Kilometern Fußweg und einigen Strapazen stand ich vor meinem Ziel und fand den Eingang nicht. Und noch etwas erschien mir seltsam. Rund um die Kathedrale waren keine Menschen.
Die Situation schien eher einem Traum zu entsprechen, als der Realität. Dann entdeckte ich an
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