1002 - Höllenqualen
meine eigene Mutter über den Boden kroch. Dabei bewegte sie nickend den Kopf. Ab und zu sah ich dabei ihr Gesicht deutlicher und las auch den Schmerz der Verzweiflung in ihren Zügen. Sicherlich wußte sie schon, was geschehen war.
Sie wollte von ihrem Mann Abschied nehmen, mit dem sie so viele Jahre zusammen gewesen war.
Sie kroch wie ein großer Wurm. Oder eine Schnecke. Sehr langsam nur, doch sie kam der reglosen Gestalt meines Vaters immer näher.
Für mich war es der Weg in den Tod. Hinein in ein furchtbares Ende, das ich meiner Mutter so gern erspart hätte. Ich wußte genau, daß ihr die andere Seite, wer immer sie auch sein mochte, kein Chance lassen würde, denn bei diesem Fluch oder Versprechen war es egal, wer umkam, ob Mann, Frau oder Kind.
Was der eine liebte, tötete der andere!
Höllenqualen durchlebte und durchlitt ich. Ein anderer Begriff fiel mir nicht ein, den gab es auch nicht. Das Rad der Zeit drehte sich nicht weiter, als wollte es demonstrativ beweisen, wie ohnmächtig ich als Mensch doch war.
Meine Mutter sah mich nicht. Ihr Mann war jetzt auch wichtiger.
Wie ich mich fühlte, als sie ihn erreichte? Ich sah, wie zärtlich sie von ihrem toten Mann Abschied nahm. Ich zumindest erlebte hier die schrecklichsten Minuten meines Lebens und wußte auch, wie grausam das Schicksal sein konnte. Alles bekam ich mit, einfach alles.
Auch den Tod meiner Mutter!
Die schwarzen Gestalten mit den kalten Totenaugen waren wieder da. Plötzlich schwebten sie über dem Rücken meiner Mutter, die neben dem Toten kniete, weil sie noch immer Abschied nahm. Eine Gnade war mir gewährt worden. Ich brauchte wenigstens nicht in ihr Gesicht zu schauen, um dort ihren Schmerz zu lesen.
Die Messer fuhren nach unten!
Und sie trafen alle den Rücken meiner Mutter!
Nein, diesmal konnte ich nicht beschreiben, was ich durchlitt. Diese verdammte Hilflosigkeit, das Höllenfeuer, das in meinen Adern brannte und das Blut abgelöst hatte, all dies war einfach nicht zu fassen. Schon allein die Vorstellung dessen, daß meine Eltern auf eine so schreckliche Art und Weise ums Leben kamen, hätte mich verrückt gemacht. Das aber war keine Einbildung, das war echt und erst vor kurzem geschehen, denn das Rad der Zeit log nicht.
Zwei leblose Körper lagen beisammen. Auch im Tod wirkten sie wie vereint.
Jemand in meiner Nähe wimmerte. Ich brauchte eine Weile, um herauszufinden, daß ich es war. Ein Mensch, der mit einem Rad vereint und völlig fertig war.
Ich fühlte mich nicht nur seelisch ganz unten, auch der körperliche Zustand war nicht mehr der beste, und ich durfte gar nicht daran denken, was noch vor mir lag.
Es gab noch die Augen und auch die Schatten darunter, schwärzer als die Nacht.
Wer sie waren und woher sie kamen, das war mir leider unbekannt. Vielleicht Dämonen im Kreislauf der Zeit, die darauf spezialisiert waren, alles zu vernichten.
Der Nebel kehrte zurück.
Nein, nicht er, sondern diese graue Wand, die auch von der Zeit befehligt wurde. Umrisse wurden unscharf, bevor sie verschwammen und schließlich verschwanden.
Das Rad ruckte wieder.
Erst einmal, dann noch einmal.
Schließlich drehte es sich.
Meine Reise ging weiter.
Aber ich war nicht mehr der Mensch, der sie vor kurzem noch angetreten hatte…
***
Der Templer war fasziniert. Er konnte nur auf das Siegel schauen und gegen das dort abgebildete Kreuz. Das helle Flimmern war deutlich zu erkennen, doch er wußte nicht, was es bedeutete. Ein magischer Energiestrom, das mochte es sein, nur wurde er damit nicht fertig und fragte sich, was der Auslöser gewesen war.
Ob er mit John Sinclair zusammenhing?
Bloch überlegte, um eine Lösung zu finden.
Es war ihm nicht möglich. Irgendwo setzte sich bei ihm eine Sperre fest. Aber er dachte auch daran, daß er den Weg in die Kathedrale der Angst nicht grundlos hinter sich gebracht hatte. Er war praktisch geholt worden.
»Aber sollte das alles gewesen sein?« fragte er sich selbst und richtete sich dabei auf.
Das war zuwenig, deshalb wollte er sich noch nicht auf den Rückweg machen.
Das Kreuz auf dem Siegel glühte nicht mehr. Nur das Licht der beiden Kerzen streute die Helligkeit über den offenen Sarg hinweg und gab auch dem Skelett des Hector de Valois ein besonderes Aussehen. Durch den Wechsel von Licht und Schatten schien es ein Eigenleben bekommen zu haben. Es war auch in die leeren Augenhöhlen eingedrungen und hatte sich dort verfangen, so daß es dem Beobachter vorkommen mußte, als hätte
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