1087 - Blutjagd
Trotzdem geht es mir gewaltig gegen den Strich. Ich weiß einfach nicht, was es gewesen ist. Was hat dieser Lebensretter mit mir angestellt?«
»Zumindest hat er dich resistent gegen Vampirbisse gemacht. Das ist auch schon etwas.«
»Laß deine Ironie.«
»Es war nicht ironisch gemeint.«
»So hörte es sich aber an.«
»Dann tut es mir leid. Noch einmal, du hast vielen Menschen gegenüber einen Vorteil, Estelle.«
»Wenn auch. Bis gestern habe ich überhaupt nicht gewußt, daß Vampire existieren. Ich hätte jeden ausgelacht, der das behauptet hätte. Aber jetzt ist es anders.« Sie schaute wieder auf das Fenster.
»Da, sieh doch, mein Gesicht zerfließt, als hätte eine unsichtbare Hand darüber hinweggewischt. Sag aber nur nicht, daß es mein Schutzengel ist, der in meiner Nähe schwebt.«
»Das hatte ich nicht vor.«
»Was denn sonst, Bill?«
Er sah ihr direkt ins Gesicht, und sie wich seinem Blick auch nicht aus, sondern erwiderte ihn mit ihren hellen, klaren Augen. »Ich glaube eher, daß sich dein Schutzengel noch einmal bei dir meldet. Wie auch immer.«
Estelle war baff. Sie öffnete den Mund, sprach aber erst später. »Wie kommst du denn darauf?«
»Ich denke, daß kein Schutzengel sein zu beschützendes Wesen im Stich läßt.«
»Toll.« Jetzt mußte sie einfach lachen. »Es hört sich an, als würdest du an Schutzengel glauben, die immer ihre Hände über die Menschen halten, damit ihnen nichts passiert. Aber das ist nicht so. Schau dich mal um in der Welt. Überall gibt es Kriege. Folter und Mord regieren in vielen Ländern. Und wo bleiben die Schutzengel? Nirgendwo. Sie sind nicht da. Sie haben sich zurückgezogen und das Feld den Menschen selbst überlassen, damit sie sich gegenseitig umbringen können. Nein, ich kann daran nicht glauben.«
»Es gibt Engel!« sagte Bill.
»Klar, es gibt auch Vampire!«
»Eben!«
Sie lehnte sich zurück und schlug mit den flachen Händen auf den Tisch. »So kommen wir nicht weiter. Wenn ich dir glauben soll, dann möchte ich den oder die Engel auch sehen. Ansonsten bleibe ich lieber bei meinem Realismus.«
»Halte mich nicht für unrealistisch.«
»Keine Sorge, das tue ich nicht. Auch ich erkenne die Zeichen, wenn ich in das Fenster schaue. Ich bleibe einfach dabei, daß mich jemand gerettet hat, der mit dem menschlichen Denken und auch mit unseren Maßstäben schwer zu fassen ist. Vielleicht bekomme ich einmal die Aufklärung. Ich hoffe nur nicht, daß es in der Stunde meines Todes sein wird. Wie schnell man sterben kann, haben wir ja bei der Schaffnerin und ihrem Kollegen erlebt.«
Bill gab ihr recht. Dann blickte er wieder auf seine Uhr. »Es müßte bald soweit sein«, bemerkte er.
»Was macht dich so sicher?«
»Mein Gefühl.«
»Willst du nicht noch mal anrufen?«
»Nein. Sheila weiß ja, daß es mir gutgeht. Wenn wir das überstanden haben, rufe ich an.«
»Ja, wenn…«
»Sei nicht so pessimistisch.«
Estelle strich ihre glatten Haare an beiden Seiten zurück und legte dann die Handflächen auf die Wangen. Mit erhobenem Blick fixierte sie Bill. »Du liebst deine Frau sehr, nicht wahr?«
»Stimmt. Ist das schlimm?«
»Nein«, erwiderte sie leise und lächelte dabei. »Ganz im Gegenteil. Ich finde es toll, daß es so etwas noch gibt, wo es heutzutage in ist, daß man sich sehr schnell wieder trennt, wenn die ersten Probleme auftauchen. Gerade in meiner Branche ist das der Fall. Da schlittert man nur so über das Eis der Oberflächlichkeiten hinweg, aber man denkt nicht daran, daß man auch einbrechen kann. Und dann gibt es keinen, der dich rettet. Dann rast du in die Tiefe und fällst somit in das soviel und oft beschworene Loch.«
»Kennst du dich da aus?«
»Ich wäre fast mal gefallen. Es lag an einer Partnerschaft, die zerbrach.«
»Jemand aus der Branche?«
»Leider.«
Bill wollte nicht hinterfragen, außerdem fiel ihm etwas auf. Das lag nicht an ihnen beiden, sondern am Zug. Er fuhr plötzlich langsamer und ruckte dabei.
Auch Estelle hatte es gemerkt. »He, was ist denn?«
»Er bremst ab«, flüsterte der Reporter. Bill schaute aus dem Fenster. »Wir laufen in keinen Bahnhof ein. Das passiert auf freier Strecke.«
»Und? Was hat das zu bedeuten?«
Bill zuckte mit den Schultern. »Sorry, das läßt sich nicht so genau sagen. Es kann sein, daß der Lokführer den Befehl erhalten hat, zu stoppen. Dann wäre der Hubschrauber in der Nähe. Aber das muß nicht sein…« Bills Gesicht zeigte einen nachdenklichen Ausdruck. »Es
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