1101 - Die Rache des Griechen
allerdings mit einer menschlichen Seele. Nach ihrer Rückverwandlung hatte sie ihre Heimat dann auf der Nebelinsel Avalon gefunden, in diesem geheimnisvollen, für Menschenaugen nicht sichtbaren Reich, auf dem die Grabstätte König Artus sowie die seiner Tafelritter zu finden war.
Sheila schaute ins Leere. Aus ihren Augen lösten sich Tränen und rannen an den Wangen entlang.
»Bitte, du solltest nicht weinen.«
»Es ist auch nicht dein Sohn.«
»Stimmt, aber so meine ich das nicht. Vielleicht sollten wir versuchen, Nadines Anruf positiv zu sehen.«
Sheila war dagegen. »Sorry, Jane, es klang nicht viel Optimismus mit durch. Ich weiß auch nicht, wie mächtig Nadine ist und ob es ihr überhaupt gelingt, von Avalon wegzukommen, denn wir sonst sollte sie Johnny helfen können?«
»Sie könnte andere Möglichkeiten haben, über die wir beide überhaupt nichts wissen.«
Sheila wußte darauf keine Antwort zu geben. Sie meinte dann: »Es ist wirklich seltsam, daß die Verbindung zwischen den beiden zustande gekommen ist. Da gibt es noch immer ein Band. Das habe ich bisher nicht gewußt. Sie selbst sprach davon, daß sie kein Schutzengel ist, aber was bedeutet das schon?«
»Daß sie nach Alternativen sucht, Sheila.«
»Tja, das kann man nur hoffen, mehr auch nicht.« Sheila stemmte sich hoch und blieb bei Jane kurz stehen. »Es ist toll, daß ich dich bei mir habe. Wir spät ist es eigentlich?«
»Schon drei Uhr morgens.«
»Danke.« Sheila ging über den weichen Teppich und blieb vor Bills Schreibtisch stehen. Ihr Blick fiel wieder auf den Bildschirm, dabei verkantete sich ihr Gesicht, obwohl noch keine neue E-Mail sie erreicht hatte. Sheila hatte auch mit dem Gedanken gespielt, Leonidas auf die gleiche Weise zu antworten, doch sie hatte davon Abstand genommen, weil sie Furcht hatte, zuviel von ihren Gefühlen preiszugeben. Und der Grieche sollte sich daran nicht ergötzen.
»Noch einen Schluck, Jane?«
»Einen kleinen.«
Sheila schenkte ein und trank dann mit Jane den milden Cognac. Vor ihrem geistigen Auge entstand ein schreckliches Bild. Sie sah einen lachenden Leonidas, der sich mit einem Messer in der Hand über den festgeschnallten Arm ihres Sohnes beugte und ihm langsam den rechten Daumen abtrennte, ohne sich von den Schreien des Jungen stören zu lassen…
***
»Kann man von Avalon aus telefonieren?« fragte Jane Collins nach einer Weile.
Die Worte rissen Sheila aus ihren trüben Gedanken. »Warum meinst du das?«
»War nur eine Frage. Ich meine, daß Avalon zwar existent, aber nicht da ist.«
»Du hast recht. Nur - wir kennen die Möglichkeiten wohl nicht, die Nadine zur Verfügung stehen. Sie kann Avalon verlassen haben.« Sheila nickte vor sich hin. »Ich weiß ja, daß dies möglich ist. Sie erreichte das Tor, durchschreitet es und befindet sich wieder in der normalen Welt, in der Nähe von Glastonburry. Dort gibt es Telefone. Ich denke nicht, daß dies unser Problem ist. Andererseits ist es gut, daß wir etwas von Nadine Berger gehört haben. Es beweist uns, daß noch jemand auf unserer Seite steht. Darüber können wir froh sein.«
»Ich versuche es ja auch«, sagte Sheila. »Ich freue mich, daß es eine Verbindung zwischen Nadine und Johnny gibt. Die beiden haben immer wunderbar zusammengepaßt. Wenn ich da an früher denke…«, sie lächelte jetzt. »Es hat nicht nur schlimme Zeiten gegeben, Jane. Wir haben oft auch Spaß miteinander gehabt.«
»Das weiß ich doch.«
Sheila drückte die Hand gegen die Stirn. »Und jetzt hocken wir hier und denken verzweifelt daran, daß andere es schafften, Johnny zu retten. Wir selbst sind so untätig. Uns sind die Hände gebunden. Der verfluchte Leonidas hat seine Rache perfekt eingefädelt. Ihm macht es auch nichts aus, einen jungen Menschen zu verstümmeln.« Sie schüttelte sich, denn ihr war wieder die Botschaft auf dem Monitor in den Sinn gekommen.
Jane wollte das Thema nicht weiter erörtern. »Ich hole uns mal was zu trinken.«
»Ja, Wasser, bitte.«
Auch die Detektivin kannte sich bei den Conollys aus. Sie ging in die Küche. Im großen Kühlschrank fand sie eine Wasserflasche und nahm auch Gläser mit.
Sheila schaute zu, wie sie einschenkte. Als Jane ihr das volle Glas bringen wollte, stand Sheila auf. »Nein, laß das mal, ich hole es mir selbst.«
Die Frauen standen wieder an Bills Schreibtisch. Das Wasser prickelte in den Gläsern.
Jane hob ihr Glas an. Sie wollte Sheila zuprosten, aber sie sah, daß die Frau dafür kein
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