111 - Das Spukschloß
noch zugedeckt. Zwei Gedecke, eins vorn, eins gegenüber. Die Servietten lagen fein säuberlich neben dem Silberbesteck; doch der Wein in den Gläsern war verdunstet, das Obst in der Schale verdorrt, und vom Braten waren nur Knochen und Sehnen übriggeblieben.
An der Wand hing das Ölgemälde eines Husaren. Unter der Staubschicht leuchtete das Rot der Uniform. Ich strich mit den Fingern über die Unebenheiten des Bildes. Erst jetzt bemerkte ich, daß jemand fein säuberlich das Gesicht ausgeschnitten hatte.
Ich sah mich um. Da fiel mein Blick auf einen Stuhl, der am Eichentisch stand. Das Gesicht des Husaren lag auf der Sitzfläche. Ich griff danach. Es war ein jugendliches forsches Gesicht. Der Husar konnte kaum älter als zwanzig Jahre gewesen sein, als man ihn porträtierte. Ein vertrockneter Feldblumenstrauß war heruntergefallen.
Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Welches Drama hatte sich hier abgespielt? Meine Gedanken schweiften ab. Ich dachte an die Befreiungskriege. Welche Rolle hatte dieser Husar dabei gespielt? Hatte er auf Napoleons Seite gestanden, oder war er einer von den Freiheitskämpfern gewesen?
Ich stieg ins erste Stockwerk hoch. Überall dasselbe Bild: Staub, abgeblätterte Tapeten und uralte Bilder.
Ich hatte fast alle Zimmer durchstöbert, ohne etwas Besonderes gefunden zu haben. Der letzte Raum, der direkt an der Vorderseite über dem Eingang liegen mußte, war abgeschlossen. Ich rüttelte an der Türklinke. Schließlich warf ich mich mit aller Kraft gegen die Tür. Das Holz zersplitterte. Staub wallte auf. Ich mußte niesen.
In diesem Zimmer waren die Vorhänge vorgezogen. Ich tastete mich zum Fenster vor und wollte sie aufziehen, doch der Samtvorhang zerriß. Schlagartig wurde es hell.
Fahles Mondlicht fiel ins Zimmer. Ich sah mehrere Biedermeiertischchen, Stühle mit Korbgeflecht und einen alten Schrank mit kostbarer Intarsieneinlage. Auf dem Tisch lagen ein kleines Büchlein und ein Säbel, wie ihn die Husaren trugen. Rechts neben dem letzten Fenster stand ein großes, weiches Bett. Darüber spannte sich ein Baldachin. Goldene Quasten baumelten seitlich herunter. Der ehemalige Hausbesitzer schien Wert auf Bequemlichkeit gelegt zu haben. Als ich näher trat, erkannte ich die dunkle Gestalt und erstarrte. Mir standen die Haare zu Berge.
Im Bett lag ein mumifizierter Leichnam. Die verschrumpelten Gesichtszüge erinnerten entfernt an den Husaren, dessen Gesicht aus dem Ölgemälde herausgeschnitten worden war. Doch das war es nicht, was mich entsetzte; auch nicht die Tatsache, daß hier ein Mensch vergessen worden war. Es kam häufig vor, daß jemand im Bett starb und erst viel, viel später entdeckt wurde. Das Schlimme an diesem Leichnam war, daß jemand seine inneren Organe entfernt hatte. Unter der pergamentartigen Haut wölbten sich die Rippenbögen. Mir wurde fast schlecht, als ich das rostige Messer darunter entdeckte.
Ich griff nach dem kleinen Buch, das auf dem Tisch lag. Die Seiten waren eng beschrieben. Ich mußte sie ans Fenster halten, um die Schrift entziffern zu können. Es handelte sich um das Tagebuch einer gewissen Magritta von Raunstein. Sie hatte über viele Jahre hinweg minutiös Tagebuch über alles geführt, was sie berührte. Diese Frau mußte eine sehr empfindsame und gefühlvolle Frau gewesen sein. Sie schilderte die alltäglichsten Begebenheiten mit bewundernswerter Sorgfalt und Einsicht.
Ich sah hinaus. Margot Artner und die Pilger bildeten einen Halbkreis um das Haus. Abi Flindt war unter ihnen. Er redete auf Margot ein.
Ich vertiefte mich wieder in das Tagebuch Magrittas. Nicht, daß ich neugierig war und in den Sachen längst Verstorbener herumschnüffeln wollte; die Geschichte war vielmehr so mysteriös, daß ich sie unbedingt aufklären mußte. Vielleicht kam ich dann dahinter, weshalb Margot Artner und die Pilger ausgerechnet hierher gewandert waren. Wenn ich das Rätsel des alten düsteren Hauses löste, würde ich auch hinter das Geheimnis der Pilger kommen.
Während ich mich in die ersten Seite des Tagebuches vertiefte, stieg eine längst vergangene Welt vor mir auf. Ich sah den herrlichen Garten des Hauses vor mir. Die Rosen leuchteten in der Sonne. Das Lachen lebenslustiger Menschen erfüllte das Haus. Kinder liefen durch den Garten zum nahegelegenen Wald. Die darauf folgenden Seiten verrieten indessen eine ganz andere Stimmung. Die Eintragungen wurden knapper und prägnanter. Ich fühlte, daß in der Schreiberin irgend etwas
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