1128 - Erbe des Fluchs
du spöttisch gemeint.«
»Was sonst?«
»Du wirst lachen, John, aber ich kann mir schon vorstellen, wohin er sie geschleppt hat.«
An diesem Abend war ich etwas begriffsstutzig und fragte: »Was meinst du denn?«
Der Templer schnickte mit den Fingern und fragte: »Wo hat denn alles begonnen?«
»Na ja, auf der Landstraße nach…«
»Nein, nein, vergiß das.«
Ich winkte mit beiden Händen ab.
»Du denkst an die alte Ruine, die Johnny Conolly besucht hat.«
»Genau die.«
Ich lächelte ihn an. »Nicht schlecht, mein Freund. Das könnte hinkommen.«
»Genau. Ich weiß auch, welche Frage du mir gleich stellen wirst. Die Antwort gebe ich dir schon jetzt. Wir müssen ungefähr eine Stunde fahren, um den Ort zu erreichen. Es kann auch etwas länger werden, aber vor Mitternacht könnten wir noch dort sein.«
»Wunderbar. Und worauf warten wir noch?«
»Ich warte darauf, daß du dich entschließt, mir zu sagen, daß ich das Steuer übernehmen soll.«
»Ich wüßte nichts, was mir lieber wäre…«
»Dann los!«
***
Suzanne Petit erwachte. Obwohl sie sich fühlte wie nach einem langen Schlaf, wußte sie bereits beim Öffnen der Augen, daß sie nicht geschlafen hatte und etwas anderes mit ihr geschehen war.
Sie hatte nur keine Erinnerung. Über ihren Kopf schien eine dicke Glocke gestülpt worden zu sein. Außerdem war sie von einer dichten Dunkelheit umgeben.
Sie war irgendwo, aber nicht zu Hause. Dort war es nicht so dunkel, auch nicht so feucht und klamm. Das war wie in einer Gruft. Ja, gefangen in einem großen schrecklichen Grab, in dem sie bei lebendigem Leibe einen schrecklichen Tod erleiden und dann vermodern würde.
Etwas erschreckte sie. Ein heftiges Flattern in der Finsternis. Dann diese schnappende Berührung an ihrem Gesicht, wie von einer Feder oder Schwinge.
Die Frau erstarrte. Der Schrei blieb in der Kehle stecken, dann atmete sie wieder auf, weil sich das Flattern nicht wiederholte und Ruhe einkehrte.
Ruhe, um die Gedanken ordnen zu können. Es war schon seltsam.
Keine Panik, keine Schreie, auch die Angst verging allmählich.
Selbst das starke Herzklopfen legte sich. Wie von selbst kehrte die Erinnerung zurück. Sie schaute mit weit geöffneten Augen in die Dunkelheit um sie herum hinein, aber die Schwärze zog sich allmählich zurück, und es erschienen die plastischen Bilder der Erinnerung wie ein Film, der irgendwo im Nichts schwebte.
Sie sah ihr Haus, sie sah sich. Sie dachte an die Angst, ohne sie wirklich zu spüren. Sie sah, wie ihr Mann weg zum Stall ging, und dann erschien er.
Grau- und langhaarig. Mit einem scharf geschnittenen Gesicht. Mit einem breiten und lächelnden Mund, dessen Lippen er geöffnet hielt. So konnte sie die beiden von oben herab wachsenden Zähne sehen wie kleine, helle Messer.
Vampirzähne!
Sie hatte das Messer. Sie hatte auch zugestoßen. Tief in seinen Körper hinein. Er hätte tot sein müssen, doch er war es nicht. Er hatte die Klinge sogar noch aus dem Körper hervorgeholt.
Und dann war er auf sie zugekommen!
Jemand, der es geschafft hatte, den Tod zu besiegen. Ein großer, ein Mächtiger. Ein Mann, ein Macho in der heutigen Zeit, ein Kavalier in der damaligen.
Seine Aura war erschreckend und faszinierend gewesen. Sie hatte es einfach nicht geschafft, ihr zu entgehen. Das Haus, der Garten, selbst ihr Mann waren in diesen Augenblicken vergessen. Sie fühlte sich wie ein Stück Eisen, das von einem Magneten angezogen wurde, und sie hatte nichts dagegen tun können und auch nicht wollen.
Da war der andere einfach zu stark gewesen.
Er hatte sie einfach genommen. Wie der Vater ein Kind an die Hand nimmt. Er war mit ihr nach draußen vor das Haus gegangen.
Dort war er dann stehengeblieben und hatte sie umarmt.
Nie zuvor hatte sie eine derartige Umarmung erlebt. Sie war wild und trotzdem zärtlich gewesen. Zugleich auch fordernd, und sie hatte nicht einmal versucht, sich zu wehren. Sie war sich selbst fremd geworden, weil sie ihr bisheriges Leben einfach vergessen hatte. Selbst Albert hatte da keine Rolle mehr gespielt, obwohl die beiden in den Jahren ihrer Ehe so viel gemeinsam geschaffen und aufgebaut hatten.
Das war jetzt vergessen. Die Vergangenheit schien einfach ausgelöscht worden zu sein. Nach der starken Umarmung waren die Dinge in Vergessenheit geraten, und sie war erst hier in der Dunkelheit erwacht.
Suzanne wunderte sich nur darüber, daß sie keine Furcht mehr verspürte.
Eigentlich hätte die Dunkelheit ihr angst machen müssen,
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