1168 - Nach den Regeln der Hölle
wieder mit den Schultern, ein Zeichen, dass sie nicht fündig geworden war.
Ich öffnete die unterste Schublade. Sie klemmte etwas.
Im ersten Moment glaubte ich, dass sie leer war, aber durch den Ruck war etwas nach vorn geschoben worden. Ein kleines Buch in einem schwarzen Einband.
Es war ein Notizbuch, und genau danach hatte ich instinktiv gesucht. Wenn ein Mensch sich anvertraute, ohne einen anderen Menschen hinzuziehen zu wollen, dann tat er es in einem Notiz- oder Tagebuch.
Ich richtete mich auf und hielt das Buch so hoch, dass es nicht zu übersehen war.
Auch Alina hatte es entdeckt. Sie saß noch bewegungslos auf ihrem Platz, als ich sie fragte: »Kennen Sie es?«
»Nein. Nie gesehen. Lag es im Schreibtisch?«
»In der untersten Schublade.«
»Dann wird es meinem Vater gehört haben.«
»Darf ich es durchblättern?«
»Ja.«
Wir hatten alle den Eindruck, wieder einen roten Faden in den Händen zu halten. Jane Collins trat näher an mich heran, um mitlesen zu können.
Die ersten Seiten waren enttäuschend. Henry hatte Zahlen hineingeschrieben. Sie waren nicht rätselhaft und stellten uns vor keine Probleme, denn er hatte die Summen dort hinterlassen, die wohl seinen Einkünften entsprachen.
Das Buch war von diesem Jahr, das erst zur Hälfte abgelaufen war. Die restlichen sechs Monate bestanden aus freien Blättern. Ich ging es trotzdem ganz durch und fand einen rätselhaften Eintrag.
»M gleich 1000 Pfund«, las ich vor.
Alina hatte zugehört. »M?«, wiederholte sie, und in ihren Augen malte sich ab, was sie dachte.
»Das… das kann Michelle bedeuten. Oder sehen Sie das anders?«
»Nein, nicht.«
»Dann hat dein Vater«, sagte Jane, »deiner Mutter wohl Geld überwiesen. Also ist der Kontakt nicht abgebrochen worden. Er hat dich belogen.«
»Warum denn?«
»Keine Ahnung.«
Ich blätterte weiter, und ich wurde wieder fündig.
»Er hat mich gefunden«, steht hier.
Diesmal gab keine der Frauen einen Kommentar ab. »Blättere mal weiter«, sagte Jane.
Zwei Seiten später fand ich die nächste Anmerkung. »Erstes Treffen zwischen uns.«
Als ich diese Worte vorgelesen hatte, sprang Alina auf. »Dann haben sich die beiden schon gesehen, bevor mein Vater umgebracht wurde.«
»Davon kannst du ausgehen.«
Ich hatte weitergeblättert und war wieder fündig geworden. Diesmal hatte Henry Wade die gesamte Seite benutzt, um seine Anmerkungen zu hinterlassen.
»Es hat keinen Sinn«, las ich halblaut vor. »Dorian akzeptiert meine Entscheidung nicht. Niemand kann seinem Schicksal entfliehen, das bereits seit Beginn der Zeiten feststeht. Über unser Ende bestimmt ein anderer.« Ich hob die Schultern. »Das ist es auf dieser Seite gewesen, und es sieht so aus, als wäre der Bruder stärker gewesen. Er hat alles gut vorbereitet…«
»Das wusste ich nicht«, flüsterte Alina und schlug die Hände vors Gesicht. »Nein, das… das… kann ich noch immer nicht begreifen. Warum hat er denn nichts zu mir gesagt?«
»Er wollte dich nicht in Gefahr bringen«, erklärte Jane. »Er war dein Vater. Er hat alles versucht, um dir sein Schicksal zu ersparen. Du bist die Tochter eines Dämons, aber er hat versucht, seinem Schicksal zu entrinnen. Wahrscheinlich wegen dir. Dass eine Kreatur der Finsternis in der Lage ist, ein Kind zu zeugen, damit haben John und ich auch nicht gerechnet. An so etwas hätten wir nicht einmal im Traum gedacht. Aber die Realität ist eben stärker.«
»Ich habe ihn trotz allem geliebt, und ich liebe ihn immer noch«, antwortete Alina flüsternd.
»Das ist verständlich.«
Ich beschäftigte mich wieder mit dem Buch. Es waren noch einige Seiten durchzublättern.
Die folgenden sah ich leer. Da war keine Zeile hinterlassen worden. Aber ein paar Seiten weiter wurde ich wieder fündig. Diesmal war die Seite recht eng beschrieben.
Abermals las ich vor. »Es ist noch einmal zu einem Treffen gekommen. Ein letzter Anlauf. Ich bin in der Nacht erschienen. Es war niemand in der Nähe. Ich war auch bereit, den Bruder zu töten, aber ich habe es nicht in Angriff genommen. Ich sagte ihm, dass er mich meinen Weg gehen lassen sollte. Ich und meine Tochter wollten mit ihm nichts zu tun haben. Er zeigte sich stur. Er wollte nicht. Er verhieß mir den Tod. Ich bin sicher, dass er seine Drohung einhalten wird. So muss man ihn eben ansehen. Er ist unbarmherzig. Es gibt für ihn keine menschlichen Gefühle. Ich weiß jetzt, dass der Drache zuschlagen wird, und kann nur hoffen, dass er Alina in Ruhe
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