1177 - Der Weg in die Unterwelt
größer war als sie, bekam ich auch von meiner Stelle aus den ersten Blick über das Gewässer.
Ein friedlicher Anblick. Wie ein großer dunkler Spiegel lag es inmitten des Waldes. Ein Stück unberührter Natur, das selbst von Windstößen in Ruhe gelassen wurde.
Die Farben Grün und Schwarz vereinigten sich innerhalb der Wasserfläche. Ich dachte an die Beschreibung, die uns Melody geliefert hatte. Das Aussehen des Sees stimmte damit überein. Nur der Nebel, von dem sie gesprochen hatte, fehlte. Da behinderte nichts unseren freien Blick über das Gewässer.
Die noch nicht untergegangene Sonne sorgte noch für eine hellere Atmosphäre über dem Wasser.
Die Luft dort hatte einen leicht goldenen Glanz erhalten. Gesprenkelte Schatten waren ebenfalls auf dem Wasser zu sehen, verteilten sich aber auch auf dem Boden und auf dem Dach der Hütte, zu der vom Ufer her ein Steg führte, weil die Hütte selbst zu weit im Wasser lag.
Ich ging weiter, bis ich Melody erreicht hatte. Sie stand auf der Stelle ohne sich zu bewegen, schaute über das Wasser hinweg und schien von Erinnerungen durchflutet zu werden. Einige dunkle Wolken bewegten sich durch die Luft. Sie bestanden aus Schwärmen von Mücken, die sich zu Tänzen zusammengefunden hatten, uns aber nicht weiter störten.
Mein Freund Bill hatte den Steg bereits erreicht. Er stand auf ihm, drehte uns den Rücken zu und schaute über das Wasser hinweg, als gäbe es am anderen Ufer etwas Interessantes zu entdecken.
Ich sprach Melody an. »Hier sind wir also richtig, nicht wahr?«
Sie bewegte sich langsam und nickte nach einer Weile. »Ja, das sind wir.«
»Das hast du in deinen Träumen gesehen?«
Wieder nickte sie. »Und meiner Mum beschrieben.«
»Die hier sein könnte.«
Diesmal erlebte ich ihren Widerspruch. »Nein, so ist das nicht richtig. Meine Mutter war hier. Das weiß ich. Sie… sie… ist hierher gegangen. Das musste sie tun. Es hat sie einfach gedrängt, verstehen Sie das?«
»Ein wenig.«
»Sie wollte wissen, ob meine Träume stimmen.«
Ich hatte es mittlerweile akzeptiert. Doch ich wusste nicht, weshalb gerade Melody Turner von diesen ungewöhnlichen Träumen erwischt worden war. Dass dies rein zufällig passierte, konnte ich nicht glauben. Wenn alles so stimmte, was sie erzählt hatte, dann musste es einen Grund für diese Träume geben.
Melody war froh, mich in ihrer Nähe zu wissen. Sie rückte näher an mich heran und fasste nach meiner Hand.
Ich drückte ihre Finger ein wenig, um ihr ein beruhigendes Gefühl zu vermitteln und hörte trotzdem ihre furchtsamen Worte:
»Ich habe Angst.«
Das konnte ich verstehen. Allerdings stimmte ich ihr nicht zu, sondern warf einen Blick in ihr Gesicht, das zu mir hochsah.
»Du brauchst keine Angst zu haben, Melody. Ich bin bei dir. Bill ebenfalls. Und die Skelette haben wir auch nicht gesehen.«
»Sie haben sich versteckt.«
»Das ist möglich.«
»Und sie haben Mum.«
»Das wird sich noch herausstellen.«
Melody blickte noch immer zu mir hoch. Jetzt allerdings schüttelte sie den Kopf dabei. »Du glaubst mir nicht, John, wie?«
»Nein, so kannst du das nicht sagen. Wenn wir dir nicht glauben würden, wären wir nicht mit dir gefahren. Auch deine Lehrerin hat dir geglaubt. Du bist schon überzeugend gewesen. Aber wir müssen auch Geduld haben und sicherlich auch so lange warten, bis es dunkel geworden ist. Dann wird der Nebel erscheinen.«
Sie stampfte mit dem rechten Fuß auf. »Ich will das aber nicht. Ich will nicht so lange warten. Ich will sie endlich sehen. Meine Mutter soll sich zeigen.«
»Sollen wir in der Hütte nachschauen?« Ich hatte den Vorschlag gemacht, obwohl ich davon überzeugt war, sie leer vorzufinden. Aber die Kleine musste beschäftigt werden.
»Ja«, sagte sie. »Ja, das ist gut, John. Auch wenn ich Angst davor habe.«
»Warum denn?«
»Weiß nicht.«
Bills Stimme unterbrach unsere kleine Unterhaltung. »He!«, rief er, »wollt ihr nicht kommen?« Er hatte sich gedreht und winkte uns zu. »Das wäre besser. Hier habt ihr…«
»Okay, wir sind gleich da!«, rief ich zurück.
Melody ließ meine Hand nicht los, als ich mit ihr den schmalen Pfad weiter dem Seeufer entgegenschritt und wir sehr rasch die letzten Hindernisse überwunden hatten. Auf den letzten Metern ging es schneller. Da bewegten sich unsere Füße leicht über den Grasboden hinweg, der sich mit Feuchtigkeit gefüllt hatte. In jeder Trittstelle sammelte sich sehr schnell das Wasser.
Bill hatte seinen Platz
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