12 Stunden Angst
dass jede strafbare Handlung, die sie vorgenommen hatte, auf ausdrückliche Weisung von Dr. Shields geschehen sei und dass Kyle Auster nichts von alledem gewusst hatte.
Die bloße Vorstellung war für Nell unerträglich.
Die Wahrheit war so völlig anders. Warren Shields war nicht nur unschuldig des Betrugs, er war darüber hinaus ein guter und gewissenhafter Arzt. Und er hatte Nell stets mit Respekt behandelt, hatte ihr gegenüber nie die Grenze unangemessenen Verhaltens überschritten – was ihn von fast allen Männern unterschied,mit denen Nell je gearbeitet hatte. Sicher, Dr. Shields hatte eine wunderschöne Frau, doch nach Nells Erfahrung reichte das nicht aus, um einen Mann am Fremdgehen zu hindern, erst recht nicht nach zwölf Ehejahren. Nell wurde in drei Jahren dreißig, und obwohl die meisten Männer sie für attraktiv hielten, war ihre Hoffnung, eines Tages einen Mann wie Warren Shields zu finden – einen guten Versorger und Vater, der sie um ihrer selbst willen liebte – beinahe erloschen. Sie hatte lange und vergeblich auf ihren Märchenprinzen gewartet. Sie war unglaublich eifersüchtig auf Laurel Shields – und zugleich beschützerisch. Nell besaß genügend Großherzigkeit, um einer anderen Frau alles Glück zu wünschen, wenn diese Frau ihr Glück tatsächlich gefunden hatte.
In Anbetracht all dessen hatte Nell vergangenen Abend bei Vida zu Hause angerufen. Um ein Haar hätte sie ihr von Austers dubiosem Telefongespräch erzählt, als Vida sie warnte, dass in den nächsten Tagen einige »große Dinge« in der Praxis geschehen würden. Als Nell nach dem Grund fragte, antwortete Vida, je weniger sie wisse, desto besser für sie. Falls Nell verhaftet werde, solle sie kein Wort sagen, bevor sie nicht mit einem Anwalt gesprochen habe. Kyle Auster würde sich rechtzeitig um einen Anwalt kümmern.
Als Nell das Wort »verhaftet« hörte, hätte sie sich fast in die Hose gemacht. »Warum sollte jemand einen Grund haben, mich zu verhaften?«, hatte sie gefragt, nachdem sie die Fassung wiedererlangt hatte. Vida zögerte ein paar Sekunden, bevor sie leise antwortete: »Es ist etwas in Dr. Shields Haus, Liebes. Wenn jemand danach sucht, wird er es finden. Die Dinge stehen schlimmer, als du vielleicht glaubst. Viel schlimmer. Wir müssen jetzt an uns selbst denken. Verstehst du?«
Nell hatte ein leises Ja gemurmelt und Gute Nacht und Bis Morgen auf der Arbeit.
Nachdem sie aufgelegt hatte, hatte sie mehrere Minuten lang verzweifelt und verängstigt neben dem Telefon gesessen und jeden einzelnen Dollar verflucht, den sie von Dr. Auster genommen hatte. Sie wünschte sich, sie hätte ihren Job in dem ruhigen altenHotel in der Tchoupitoulas Street nie aufgegeben. Sie weinte eine Zeit lang und streichelte ihre Katze. Schließlich zog sie ihren Mantel über und ging auf einen Spaziergang nach draußen. Während dieses Spaziergangs dachte sie lange und angestrengt nach. Als sie zurückkam, setzte sie sich an ihren Computer und tippte eine kurze E-Mail an Dr. Shields. Sie hatte ihm nie zuvor eine Mail geschickt, doch sie kannte seine AOL-Adresse von der Arbeit. Sie benutzte ihren Hotmail-Account als Absender, von dem nicht einmal Vida etwas wusste und der keinerlei Rückschlüsse auf ihren Realnamen zuließ.
Als sie sicher gewesen war, dass die Nachricht den Adressaten erreicht hatte, hatte sie zwei Lorazepam genommen, die sie aus dem Arzneiraum hatte mitgehen lassen, und die Tabletten mit einen Glas Wein heruntergespült. Der Alkohol-Schlafmittel-Mix hatte eine so durchschlagende Wirkung gehabt, dass sie an diesem Morgen eine Stunde zu spät zur Arbeit gekommen war.
Als Dr. Shields nicht erschienen war, hatte Nell trotz ihrer Nervosität eine stille Befriedigung verspürt. Sie nahm an, dass er gefunden hatte, was immer in seinem Haus versteckt worden war, und dass er wusste, was damit getan werden musste. Kluge Männer wie Shields wussten immer, was zu tun war. Den größten Teil des Morgens hatte Nell darauf gewartet, dass Beamte des FBI durch die Tür stürmten, Dr. Shields auf den Fersen, um die Computer von den Schreibtischen zu reißen und die Akten zu beschlagnahmen. Es wäre beinahe eine Erleichterung gewesen, so groß war Nells Anspannung.
»Nell, Liebes?«, fragte Vida in diesem Moment.
Nell blickte zu ihrer Schwester hoch, die wie üblich zu viel blauen Lidschatten aufgetragen hatte. Vida musterte sie aufmerksam von ihrem Platz am Empfangsschalter aus.
»Alles in Ordnung?«
»Alles bestens«,
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