12 Stunden Angst
Sicherheitsnetz auszusteigen.«
»Ich?« , flüsterte sie fassungslos. »Ich soll feige sein? Und was ist mit dir? «
Die aufrichtige Empörung in ihrer Stimme weckte seine Neugier. Er blickte auf und schaute sie über den Bildschirm hinweg an. »Wovon redest du da?«
»Das weißt du ganz genau. Die Nacht auf dem Highway 24. Auf dem Heimweg von einem Kriteriumsradrennen in McComb.«
Warren versteifte sich. Sein Gesicht war blass geworden bis auf die dunklen Ringe unter den Augen. Er erinnerte sich also – schön. Beide starrten sich über den Computer hinweg an, während sie an jene Nacht dachten, in der sich ein Abgrund zwischen ihnen aufgetan hatte, der seit damals nie mehr überbrückt worden war. Vor fast einem Jahr, nach einem der wenigen Radrennen, beidenen Laurel zugeschaut hatte. Warren hatte den dritten Platz belegt, worüber die meisten Fahrer sich riesig gefreut hätten, doch weil es nur ein regionales Rennen gewesen war, hatte Warren den kleinen Pokal in eine Mülltonne gestopft und verlangt, dass sie auf der Stelle nach Hause fuhren.
Sie hatten vielleicht die Hälfte der hundert Kilometer langen Strecke zurückgelegt, als es geschah. Weit vor ihnen explodierten Flammen aus der Dunkelheit wie von einem Meteoriteneinschlag. Als sie näher kamen, konnte Laurel auf dem rechten Seitenstreifen die Silhouette eines brennenden Pick-ups ausmachen, der sich mit der Schnauze in eine mächtige Eiche verkeilt hatte. Erschreckender noch war die Gestalt, die bäuchlings auf dem Asphalt lag und sich zu bewegen schien. Laurel wartete darauf, dass Warren auf die Bremse trat, doch nichts geschah, und bevor es ihr so recht bewusst wurde, jagten sie an dem brennenden Autowrack vorbei, während die stechenden Dämpfe von brennendem Treibstoff anklagend durch die Belüftungsdüsen in das Wageninnere strömten.
»Halt an!«, hatte sie gerufen und seinen Arm gepackt, doch er war mit entschlossen vorgerecktem Unterkiefer einfach weitergefahren. Der anschließende Streit hatte das Bild, das Laurel von Warren hatte, für immer verändert. Während sie ihn angefleht hatte umzudrehen und das Opfer zu retten, das sie auf der Straße hatte liegen sehen (ganz zu schweigen von denen, die vielleicht noch im Wagen eingeschlossen waren), hatte Warren gelassen die Risiken beschrieben, die es für ihn beinhaltet hätte. Gab es denn nicht ein Gesetz in Mississippi, das gute Samariter vor derartigen Dingen schützte?, hatte Laurel ihn angeschrien. Das macht überhaupt keinen Unterschied, hatte Warren geantwortet – nicht, sobald die Anwälte sich erst mit Schadensersatz- und Schmerzensgeldforderungen auf den Fall gestürzt hatten. Laurel hatte zu diesem Zeitpunkt bereits hemmungslos geschluchzt.
»Aber da hinten könnte jemand sterben!«, hatte sie geschrien. »Jetzt, in diesem Augenblick, während wir einfach weiterfahren!Ich habe jemand auf der Straße liegen sehen! Er hat sich noch bewegt!«
Doch Warren war eisern geblieben. Noch heute erinnerte sie sich an seinen leisen Monolog, als sie sich immer weiter vom Ort des Unfalls entfernt hatten. »Wahrscheinlich war es irgendein betrunkener Schwarzer, der seinen Wagen um den Baum gewickelt hat. Oder weißer Abschaum, such es dir aus. Der Kerl hat wahrscheinlich in seinem ganzen Leben nicht einen Cent für seine Autoversicherung bezahlt. Ich hingegen habe zwanzig zermürbende Jahre studiert, um Arzt zu werden. Ich denke nicht daran, alles zu riskieren, was ich für dich und die Kinder aufgebaut habe, um jemandem zu helfen, der mich hinterher zum Dank vor Gericht zerrt, statt mich zu bezahlen.«
Während Laurel ihn ungläubig anstarrte, fuhr Warren mit seiner Rechtfertigungsrede fort. Seine Worte hatten sich unauslöschlich in ihre Seele eingebrannt: »An einem Freitag, es war schon spät, habe ich eigenhändig eine Blutprobe nach Jackson gefahren, um schnellstmöglich herauszufinden, ob ein Kind an Leukämie erkrankt war oder nicht. Es war gesund. Ich habe weder Kosten noch Mühen gescheut, um den Leuten zu helfen, und was war der Dank? Habe ich von der Familie auch nur ein Wort des Dankes bekommen? Nein, Ma’am. Ein leerer Blick, das war alles. Kein Dankeschön, keine Bezahlung, kein Garnichts. Deswegen fahren wir heute Nacht weiter.«
Laurel hatte sich in ihrem Sitz zurückgelehnt und die Augen geschlossen, doch der in Flammen stehende Pick-up brannte hinter ihren Lidern weiter, und der zerschmetterte Körper kroch noch immer hilflos über die dunkle Straße.
Am nächsten Morgen
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