1272 - Der Geist des Zauberers
war. So etwas gab es normalerweise nicht. Okay, sie wusste schon, dass es Menschen gab, die in Spiegeln immer etwas Geheimnisvolles sehen, aber das war doch alles nur dummes Gerede. In der Wirklichkeit kam es nicht vor, auch wenn verschiedene Bekannte - vor allen Dingen dann, wenn sie aus der Karibik stammten und aus Afrika - noch an die alten Voodoo-Rituale glaubten. Das hatte Naomi nie getan.
In den Internaten hatte sie eine christliche Ausbildung mitbekommen, aber sie dachte auch daran, dass die Religion des Voodoo einiges vom Christentum übernommen hatte. Darüber hatte sie mal mit einer Freundin gesprochen.
Aber Voodoo hier? Hier in London?
Das wollte ihr einfach nicht in den Kopf. Es war einige Stufen zu hoch für sie.
Trotzdem konnte sie diesen Gedanken nicht verbannen. Irgendetwas blieb immer hängen, und auch jetzt stellte sie fest, dass sie zitterte. So leicht war das Geschehen für sie nicht zu verkraften. Als sich Naomi vom Wannenrand erhob, merkte sie, dass ihre Knie weich geworden waren.
Das Gehen fiel ihr schwer, und jetzt kam sie sich vor wie ein Zombie, der aus einem tiefen Grab geholt worden war. Aber sie wollte das Bad verlassen. Sie wollte sowieso raus aus der Suite, und sie wollte endlich ihren Vater von Angesicht zu Angesicht sehen und sich nicht mehr auf einen anderen Termin vertrösten lassen.
Deshalb gab es für sie nur eines. Sie musste mit ihrem Vater telefonieren, aber zuvor versuchen, irgendwie an die Nummer heranzukommen, denn die kannte sie nicht. Der Vater hatte sie nur angerufen. Umgekehrt war nie ein Schuh daraus geworden.
Sie hatte das Bad kaum verlassen und stand wieder auf dem weichen Teppich innerhalb des kleinen Vorflurs, als sich bei ihr das Telefon meldete.
In diesem Hotel war alles sehr vornehm. Sogar das Geräusch des Telefons hörte sich gedämpft an.
Sie schaute auf die Uhr.
Es war zwar noch nicht Mitternacht, aber für einen Anruf schon recht spät. Trotzdem hob sie ab, denn sie ging davon aus, dass es ihr Vater war, der etwas von ihr wollte. Sie stellte sich vor, dass er schon vor der Tür stand und mit dem Handy telefonierte, dass er sie umarmen würde, wenn sie die Tür öffnete, doch diese Vorstellungen brachen jäh zusammen, als Naomi die Stimme der Hotelangestellten hörte, die zwei Männer meldete.
»Zwei Männer?«
»Ja, Madam. John Sinclair und ein Bill Conolly.«
»Kenne ich nicht.«
»Soll ich sie dann wieder wegschicken?«
Naomi überlegte. Sie nagte an ihrer Unterlippe, legte die Stirn in Falten und wollte noch eine Frage stellen, aber die andere Seite kam ihr zuvor.
»Ich soll Ihnen ausrichten, Madam, dass die beiden Männer etwas über Ihren Vater wissen.«
»Nur wissen?«
»So haben sie gesagt.«
»Gut. Sagen Sie ihnen, dass ich komme. Sie möchten in der Bar auf mich warten.«
»Danke, das werde ich gern tun.«
Naomi legte auf. Plötzlich war sie nervös. Aber nicht nur das. Sie spürte auch den Druck der Angst und konnte sich vorstellen, dass ihr Leben in dieser Nacht noch einen anderen Dreh bekam…
***
Die junge Frau an der Rezeption lächelte uns an. »Sie wissen, wo sich die Bar befindet?«
»Ja.«
»Dann wünsche ich Ihnen einen angenehmen Abend.«
»Danke.«
Ob der Abend für uns angenehm werden würde, bezweifelten Bill und ich, denn bisher war er nicht so verlaufen, wie man sich ihn hätte wünschen können. Außerdem war er von der Zeitrechnung her bereits vorbei. Da hätte die nette Lady besser von einer Nacht gesprochen.
Auf Naomi waren wir beide gespannt. Den Vater kannten wir ja, und möglicherweise gab es zwischen den beiden sogar Gemeinsamkeiten, ohne dass sie sich deren bewusst waren.
Aber Ngoma lebte nicht mehr. Da es zwischen ihm und seiner Tochter keine normale Verbindung gegeben hatte, mussten wir davon ausgehen, dass Naomi noch nicht wusste, dass ihr Vater tot war.
Wir würden wohl diejenigen sein, die es ihr beibrachten. Um diese Aufgabe brauchte uns niemand zu beneiden.
Dass wir uns in der Hotelbar treffen wollten, gefiel uns, denn sie war ein neutraler Ort. Sie schloss dann, wenn der letzte Gast gegangen war, und viele Gäste hatten sich in dem gediegen eingerichteten Raum nicht eingefunden. An der Theke saßen zwei Männer beisammen, tranken Whisky und sprachen über Geschäfte. Sie hatten einige Unterlagen zwischen sich und den Gläsern ausgebreitet.
Für etwas anderes hatten sie keinen Blick. Zwei Tische waren von älteren Paaren besetzt. Amerikaner, wie wir an der Aussprache hörten.
Wir
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