1446 - Der Eis-Schamane
Nase hoch und wischte über ihre Augen. »Ja, ja«, sagte sie stockend, »du hast ja Recht. Es ist alles gut gegangen. Aber das konnten wir nicht unbedingt voraussehen, sage ich mal.«
»So ist es…«
»Aber wie?«, unterbrach sie mich. »Wie kann das Eis so plötzlich brechen, obwohl die Temperaturen nicht angestiegen sind? Kannst du mir das sagen, John?«
»Nein.«
»Aber wenn es dafür keine Erklärung gibt, dann bist du an der Reihe. Hier läuft etwas ab, das noch längst nicht beendet hist. Da bin ich mir sicher.«
Das konnte sie auch. Ich brauchte nur einen Blick auf den See zu werfen und das Unerklärliche zu beobachten, denn was sich dort abspielte, darüber konnte man als normaler Mensch nur den Kopf schütteln. Das Brechen der Eisplatte war selbst bis zu uns am Ufer zu hören. Aus den verschiedenen Rissen und Spalten quoll das Wasser hoch, überspülte das Eis und fraß den Schnee.
Wellen entstanden, die in verschiedene Richtungen wegliefen. Das Eis war ganz gewiss nicht durch einen Temperaturanstieg gebrochen, nein, daran trug etwas anderes die Schuld. Ich ging davon aus, dass dieser Vorgang unterhalb der dicken Eisfläche seinen Anfang genommen hatte. Wenn das zutraf, musste dort eine gewaltige Kraft lauern.
»Denkst du das, was ich denke?«, fragte Maxine.
»Wahrscheinlich.«
»Dann weiß ich mir keinen Rat.«
Ich hob die Schultern. »Ich auch nicht, Max. Wer weiß, was dort unten in der Tiefe lauert.«
Da keiner von uns beiden eine Antwort wusste, schauten wir weiterhin über die Fläche hinweg. Es war viel Schnee weggeschwemmt worden, es gab zahlreiche Risse von unterschiedlicher Breite und Länge, sodass die Eisfläche aussah, als hätte sie sich in ein großes Puzzle verwandelt. Der See blieb nicht ruhig, denn die unterschiedlich großen Eisstücke schwappten hin und her.
»Wer sorgt für diese Unruhe, John?«
»Keine Ahnung.«
»Da kommt noch etwas auf uns zu. Ich überlege nur, ob wir hier stehen bleiben oder uns bis zur Straße zurückziehen sollen. Was meinst du, was besser ist?«
Ich wollte nicht sofort antworten und zunächst nachdenken. Dazu ließ man mich nicht kommen, denn es passierte etwas auf oder unter dem Wasser, womit wir nicht im Traum gerechnet hatten. Wir konnten nur dastehen und staunen.
»Das gibt es doch nicht«, flüsterte Maxine Wells, »mein Gott, was ist das denn…?«
***
Carlotta zuckte zurück und duckte sich dann, als sie die Gestalt gesehen hatte. Jetzt gab ihr die Geschirrspülmaschine Deckung, und das Vogelmädchen bewegte sich nicht von der Stelle.
Ihr Herz schlug schneller als gewöhnlich, während sie über den Fremden nachdachte. Wo kam er her? Was wollte er hier? Wieso hatte sie ihn nicht schon früher gesehen?
Wie viel Zeit sie in der Hocke und in Deckung verbracht hatte, wusste sie nicht. Doch ihr war klar, dass sie nicht immer in dieser Stellung bleiben konnte. Sie musste nachsehen, ob sich im Garten etwas verändert hatte. Am liebsten wäre ihr gewesen, wenn die fremde Gestalt den Rückzug angetreten hätte.
Im Entengang bewegte sich das Vogelmädchen von der Spülmaschine weg, bis sie sich seitlich vom Fenster befand.
Langsam erhob sie sich, bis sie über das Fensterbrett schauen konnte.
Der Fremde stand noch dort, und er drehte ihr seinen Rücken zu.
So wurde sie etwas mutiger und richtete sich weiter auf. Ja, die Sicht war jetzt gut.
Sie schaute auf den Rücken des Fremden. Da er keine Anstalten machte, sich umzudrehen, konnte sie sich Zeit lassen.
Es war ein Mann, da hatte sie sich nicht geirrt. Er trug nicht eben die perfekte Winterkleidung. Wenn sie nicht alles täuschte, war es nur eine normale Jacke, die bis zu den Hüften reichte und eine Hose sowie dicke Schuhe, die fast im Schnee verschwanden.
Aber da war noch etwas.
Lag es an der Jacke? Oder hing es mit dem Körper zusammen?
Auf dem Rücken entdeckte sie seltsame Gegenstände. Sie sahen aus wie dunkle Bänder.
Einen Blick in das Gesicht konnte Carlotta nicht werfen. Da hätte sich der Fremde schon umdrehen müssen, was er nicht tat. Aber er blieb nicht mehr auf der Stelle stehen. Er begann sich zu bewegen und ging vor.
Das tat er mit langsamen Schritten. Bei jedem Schritt wirbelte er den Schnee in die Höhe, und Carlotta fragte sich, wo er hin wollte.
So groß war der Garten auch nicht.
Sie war froh darüber, dass in der Küche kein Licht brannte, sodass sie von draußen wahrscheinlich nur schlecht zu sehen war.
Plötzlich stoppte der Fremde.
Damit hatte Carlotta
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