1446 - Der Eis-Schamane
nicht gerechnet, denn für sie gab es keinen Grund. Es blieb auch nicht dabei, denn der Fremde drehte sich mit sehr langsamen Bewegungen um und blickte direkt aufs Haus. Wäre das Fenster erhellt gewesen, hätte er Carlotta sehen müssen, so aber blieb sie unsichtbar.
Er setzte sich wieder in Bewegung.
Und diesmal nahm er den direkten Kurs auf das Haus, als hätte ihm jemand gesagt, dass hinter einer bestimmten Scheibe ein Beobachter lauerte.
Carlotta lief nicht weg. Sie hatte schon einiges erlebt und besaß in diesem Moment tatsächlich die Nerven, alles in Ruhe abzuwarten.
Der Fremde ließ sich Zeit. Er wirbelte Schnee hoch, war aber noch zu weit entfernt, als dass Carlotta sein Gesicht hätte erkennen können. Es kam ihr nur recht dunkel vor, wie bei einem Farbigen. Nur glaubte sie nicht daran, dass sie einen Farbigen vor sich hatte. Dieser Typ war etwas ganz anderes.
Da er stetig näher kam, sah sich das Vogelmädchen gezwungen, sich einen neuen Beobachtungsplatz zu suchen. Carlotta ging davon aus, dass der Typ durch das Küchenfenster ins Haus schauen würde.
Wer war er?
Genau diese Frage stellte sie sich. Gut, er sah aus wie ein Mensch, aber mussten alle, die so aussahen, auch Menschen sein? Es war ein verrückter Gedanke, der ihr durch den Kopf huschte. Zugleich jedoch sah sie ihr eigenes Leben als verrückt an, und wenn sie ehrlich sich selbst gegenüber war, konnte sie sich auch nicht als einen normalen Menschen bezeichnen.
Ihr nächstes Ziel war die Tür. Bestimmt hatte der Kerl das Fenster noch nicht erreicht. So würde ihm nicht auffallen, wenn die Küchentür geöffnet wurde. Auch hier ging sie vorsichtig zu Werke, denn sie riss die Tür nicht mit einem Ruck auf, sondern öffnete sie nur einen Spalt breit.
Von der Küche aus wie von einigen anderen Räumen auch gelangte man in den Flur. Dort fühlte sich das Vogelmädchen sicherer.
Wenn der Fremde jetzt durch das Fenster blickte, würde er in eine leere Küche schauen.
Sie ließ den Spalt zunächst so breit, wie er war. In guter Deckung richtete sie sich auf und behielt dabei das Fenster im Auge.
Die letzten Minuten hatten sie schon angestrengt. Mit dem Handrücken wischte sie sich den dünnen Schweißfilm von der Stirn.
Wie es weiterging, stand in den Sternen, doch sie würde sich auf keinen Fall fertig machen lassen, das wusste sie jetzt schon. Carlotta nahm sich vor, dass der Typ sie nicht einfangen sollte.
Doch erst musste er sich zeigen.
Die Zeit rann dahin. Carlotta wurde nervös. Sie spürte, dass ihre Lippen trocken wurden, und leckte mit der Zungenspitze darüber hinweg. Das längere Starren bereitete ihren Augen Probleme. Sie schloss sie für einen Moment, öffnete sie wieder, und als sie dann nachsah, hatte sich das Küchenfenster verdunkelt.
Obwohl sie damit gerechnet hatte, schrak sie zusammen.
Alles um sie herum schien zu erstarren. Es gab nur noch den Unbekannten und sie. Wieder schlug ihr Herz schneller. Hinter ihrer Stirn klopfte es. Sie versuchte, sich auf den Anblick zu konzentrieren und meinte dabei das Gesicht. Es war durchaus möglich, dass der Mann ihr bekannt war, denn so zielsicher, wie er auf dieses Haus zugegangen war, musste er sich hier auskennen.
Er tat nichts. Er stand nur da. Er schaute, und allmählich hatten sich die Augen des Vogelmädchens an die Lichtverhältnisse gewöhnt. Es gelang ihr, sich das Gesicht genauer anzuschauen.
Ein schmales Gesicht. Man konnte auch sagen, dass es in die Länge gezogen war. Von der Stirn bis zum Kinn hin. Aber dazwischen gab es noch etwas.
Die Nase!
Genau da stutzte die heimliche Beobachterin. Die Nase war etwas Besonderes. Sehr lang, sehr gebogen, auch spitz, sodass ihr der Vergleich mit einem Vogelkopf in den Sinn kam.
Den Mund sah sie nicht, weil die Nase zu weit vorstand und dazu noch gebogen war.
Keine Nase – ein Schnabel! Und das bedeutete… Carlotta wollte es kaum glauben, dass die Gestalt am Fenster keinen normalen Kopf hatte, sondern den eines Vogels …
***
Ihr war, als wäre sie von einer mächtigen Pranke in den Magen getroffen worden. Mit diesem Bild hatte sie nicht mal im Traum gerechnet.
Ein Mann, der den Kopf eines Vogels hatte! Und sein Körper? Wie sah der aus? Konnte man ihn noch mit dem eines Menschen vergleichen oder war auch er der eines Vogels?
Carlotta wusste sich keinen Rat mehr. Aber sie freute sich darüber, dass sie die Kraft aufbrachte, auf ihrem Platz stehen zu bleiben und sich nicht zu bewegen. So konnte der Fremde nicht auf
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