146 - Der Schatz in der Tiefe
aufrichtete, war er nicht mehr der hochgewachsene, breitschultrige Taucher.
Eine neue Identität füllte mit stechenden Schmerzen seinen Körper bis in die Zehen und Fingerspitzen aus.
Er war Seth-Hega-Ib, der Dämon!
Er spürte größte Verwirrung. Er war im Reich der Menschen. Er war frei und besaß einen Körper, voller Blut, voller Kraft und Geschmeidigkeit. Wo waren die endlosen Dünen? Woher kamen die Lichter? Wo war er?
Seth-Hega-Ib war unsicher. Er mußte diese Welt erst kennenlernen. Um ihn herum war zuviel Helligkeit. Er spürte Menschen in der Nähe. Er zuckte vor dem Silber und den Bannflüchen zurück, die er im Metall des Sarkophags erkannte. Mit zwei Sätzen verließ er den schwankenden Boden, auf dem er sich nicht stark genug fühlen konnte. Er war an Land und ging in jene Richtung, in der es am meisten Dunkelheit gab. Nach einigen Schritten kannte er die Möglichkeit seines neuen Körpers, und er fing an, schneller zu gehen, schließlich zu laufen.
Er war frei! dachte er und erinnerte sich daran, daß die Menschen sprechen konnten, Worte gebrauchen… er hastete auf der breiten Straße, flankiert von unbeweglichen Lichtern, geradeaus. Dort erkannte er Bäume und Mauern. Behausungen, voll von Menschen, voll von Blut, Nahrung, Lebensenergie.
Er wimmerte auf wie eine Katze und rannte weiter.
Eine herrliche Zeit lag vor ihm! Aber noch mußte er lernen, mit diesem neuen, kräftigen Werkzeug richtig umzugehen. Er rannte, vorbei an erschrockenen und überraschten Menschen in seltsamer Kleidung, auf eine Stelle zu, an der sich der Weg gabelte.
Er nahm die rechte Abzweigung. Sie führte vorbei an Palmen - die er erkannte - und fremden Bäumen. Ins Dunkel führte sie. Alle zehn Schritte wurde es dunkler. Nur aus viereckigen Löchern in den Wänden strahlte mildes Licht hervor. Er sah Menschen, die an Tischen saßen und blitzende Dinge in den Händen hielten. Vorbei. Überall tropften die Blätter, überall war Nässe. Aber die Dunkelheit nahm ihn irgendwann auf, und er verkroch sich in einem weichen Haufen Stroh, irgendwo, zwischen feuchten Mauern…
Charlie runzelte die Stirn und schüttelte kurz den Kopf.
„Merkwürdig", sagte er. „Da ist eben jemand wie ein Verrückter vorbeigerannt. Er hat ausgesehen wie Raymond."
„Kaum. Der liegt im breitesten Bett und schnarcht seinen Rotwein in die Nachtluft", antwortete Roquette. Aber ein Schatten huschte über ihr Gesicht. Sie löffelten gerade die Nachspeise.
„Wir werden ein paar Tage Pause einlegen", meinte schließlich Charlie und bewegte den Kopf in Richtung auf den Durchgang zur Bar. „Nicht nur wegen der Wellen. Es ist auch besser, nicht aufzufallen. "
Roquette streichelte seine unrasierte Wange.
„Eigentlich könnten wir jetzt aulhören", sagte sie. „Der Sarkophag ist an Deck, und wir haben wirklich viel Edelmetall geborgen. Die Statuetten und der Schmuck… das muß ein Vermögen einbringen."
„Und beim Verkauf werden wir verhaftet."
„Das ist so gut wie sicher", pflichtete sie ihm bei. „Aber es war eine gute Zeit. Wir alle haben ganz hübsch geschuftet."
Er sagte ganz ernsthaft: „Mit dir zusammen hat's mir Spaß gemacht. Khedoud sind beinahe die Augen aus dem Kopf gefallen. Du siehst aber wirklich von Tag zu Tag mehr wie eine fliegende Wassernixe aus."
„Fliegende Wassernixe", lächelte Roquette zurück. „Das ist ein schönes Kompliment, Charlie. So ähnlich müßte ich mich eigentlich fühlen. Wenn nicht…"
Sie schwieg. Der Tisch wurde abgeräumt. Charlie sagte, daß man die Rechnung in die Bar bringen sollte. Es waren nur noch fünf Gäste da; keine Fischer diesmal. Leise meinte der Skipper:
„Der Sarkophag, nicht wahr? Komm, ich gebe ein Glas Champagner aus."
„Das brauche ich!"
Sie setzten sich wieder zu den alten Damen an die Bar. Wieder brannten Treibholzkloben im Kamin. Champagner wurde nicht häufig verlangt, deswegen bekamen sie einen alten Jahrgang in großen, flachen Gläsern. Es war nach all den aufregenden Vorkommnissen eine Stunde der Geborgenheit in einer ebensolchen Umgebung. Der Rauch aus Charlies Zigarette stieg ruhig zu dem riesigen Stilleben auf, auf dem die Trüffel so groß wie Straußeneier waren, und die Muräne wie ein Delphin.
„Du bist unruhig", brummte Charlie. „Sollen wir nach Port Grimaud zurückfahren, wenn du die Truhe…?"
„Ich weiß es nicht. Ja. Ich bin unruhig, solange diese Zeitbombe an Bord ist."
„Khedoud wird sie nicht anrühren. Jedenfalls nicht öffnen. So gut
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