1504 - Mordgeschichten
bekommen?«
»Ja«, gab Ramona flüsternd zurück, »das habe ich. Besuch von einem Engel.«
»Das ist toll.«
»Ich weiß.«
»Und? Wie hast du dich gefühlt? Was hat er gesagt? Ist er mit dir auch fliegen gegangen?«, wollte einer der Jungen wissen.
»Nein, das nicht.«
»Kann der Engel denn fliegen?«
Die Erzieherin kicherte. »Bestimmt, meine Lieben. Die meisten Engel können fliegen. Das habt ihr doch bestimmt schon öfter gehört. Oder etwa nicht?«
»Doch, ja, das haben wir.«
»Umso besser.« Sie schaute die Kinder der Reihe nach an, als wollte sie ihnen die nächsten Worte in die Seelen brennen. »Aber nicht alle Engel sind so rein und lieb. Es gibt auch noch die anderen, das weiß ich genau, meine kleinen Freunde. Und diese anderen Engel sind etwas ganz Besonderes. Sie befinden sich nicht im Himmel. Sie wollen dort auch nicht hin, denn ihr Platz ist die Hölle. Ja, die Hölle. Sie lieben den Teufel. Sie gehorchen ihm, und sie wissen genau, was der Teufel braucht. Seelen von Menschen und auch die Seelen der Kinder. Darauf ist er besonders scharf. Der böse Engel wird kommen, und ich bereite ihm den Weg. Es wird alles so geschehen, wie ich es gelesen habe, und dann wird die Freude in der Hölle riesig sein.«
Sie hatte mit ihren Worten abgeschlossen, und in ihre Augen war ein fast unheimlicher Glanz getreten. Sie nickte den vier Kindern zu, die sie anschauten, jedoch nichts begriffen hatten. Ein Junge versuchte zu lächeln, doch es wurde nichts daraus.
Der Zweite stand auf. »Ich will zu meiner Mum.«
»Deine Mum wird es für dich bald nicht mehr geben. Hast du mich verstanden?«
»Ja, das schon, das habe ich, das habe ich…« Er plapperte drauflos und fing plötzlich an zu weinen.
Er war der Erste, und dieses Weinen wirkte wie eine Initialzündung auf die anderen Kinder. Sie hatten bisher unter einer Stressglocke gesessen, ohne es selbst einschätzen zu können. Aber die tiefe Angst, die trotzdem in ihnen steckte und durch die völlige Veränderung der Vertrauensperson gekommen war, musste sich freie Bahn verschaffen.
Alle vier fingen an zu schreien. Sie sprangen hoch. Zugleich setzten sie ihre Fluchtgedanken in die Tat um. Sie waren nicht mehr die lieben Kleinen, sie mussten jetzt weg. Die Angst sorgte für diese Reaktion, und sie wollten auf die Tür zu rennen.
»Neinnn!«, schrie Ramona. »Ihr gehört mir, und ihr gehört ihm!«
Sie schnitt den Kindern den Weg ab, schaffte es nicht ganz, denn die beiden Jungen reckten ihre Arme der Klinke entgegen.
Sie waren nicht lang genug. Sie griffen ins Leere, und dann fegte Ramona sie zur Seite.
»Keiner wird mehr zu seinen Eltern gehen. Ihr seid meine Opfer. Ihr sollt hier verbrennen, und eure Seelen werden dem Bösen gehören. Kinderseelen…« Sie fing an zu kreischen. »Es ist wirklich das Beste, was der anderen Seite passieren kann. So unschuldig, so rein. Ich freue mich darauf, euch lodern zu sehen. Andere konnten fliehen, aber ihr reicht auch aus.«
Sie hatte es geschafft und die Kinder wieder von der Holztür weggetrieben.
Dieser Raum war nicht so einzusehen wie die anderen in dem größeren Bau. Hier lagen die Fenster höher. Die Kinder konnten nicht nach draußen schauen. Auf Licht mussten sie trotzdem nicht verzichten. Es fiel noch genügend herein.
An einer Wandseite standen Regale. Dort lag allerlei Spielzeug, und davor stapelten sich einige weiche Matten, die benutzt wurden, wenn die Kinder turnten.
Sie waren das Ziel der Erzieherin, zu dem sie mit schnellen Schritten lief.
Doch die Matten interessierten sie nicht. Ihr Griff galt dem Gegenstand, der daneben stand.
Es war ein Kanister, in dem es schwappte, als sie ihn anhob. Der Kanister selbst bestand aus Kunststoff und war leicht. Nur der Inhalt machte ihn schwer, und diese Flüssigkeit bestand nicht aus Wasser, sondern aus Benzin.
Noch war er verschlossen. Das änderte Ramona schnell. Sie schraubte den Deckel ab, der an einem Band hing und so mit dem Kanister verbunden blieb.
All das wurde von den Kindern beobachtet, während draußen an den Fenstern der Rauch entlang trieb.
Ramona legte die nasse, in allen Farben schimmernde Spur zwischen der Tür und den Kindern. Das brennbare Zeug gluckerte aus der Öffnung. Ein scharfer Geruch breitete sich aus, und die beiden Mädchen pressten ihre Hände gegen die Nasen.
»Wie im Buch«, flüstere Ramona, »es wird wie im Buch sein. Ich bin ein Teil der Apokalypse, und ich werde ein würdiges Mitglied der Hölle sein.« Sie
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