1610 03 - Soehne der Zeit
Gesicht. Er wirkte zehn Jahre älter als noch auf der Landzunge von Hako. Seit Tanaka Saburos abgeschlagener Kopf über den einst weißen Sand gerollt war, hatte er keine zwei Worte gesprochen.
Zehn Jahre voller ausführlicher Berechnungen und das alles für nichts …
Ich betrachtete den Himmel über dem Chinesischen Meer und betete, dass wir keine der gelben Wolken sehen würden, die einen Sturm ankündigten. Die portugiesischen Offiziere sprachen von tuffoon , die nicht-europäischen Seeleute von taifung . Das waren gewaltige Winde, die – sollten sie über die Santa Theodora hinwegfegen – noch nicht einmal Planken auf dem Meer von uns übrig lassen würden. Sie hätten einen schnellen, sicheren Tod für uns bedeutet.
Dariole sprach nicht.
Am fünfzehnten Tag nach unserer Abfahrt aus Nihon gesellte sich Gabriel Santon auf Deck zu mir und fragte rundheraus: »Was sollen wir jetzt tun, Raoul? Sollen wir dem englischen König diesen zahmen Affen zurückbringen, wie du gesagt hast? Oder glaubst du, in Paris würden wir einen besseren Preis für ihn bekommen? Oder vielleicht in Rom?«
Sein Blick verriet mir, dass hinter seiner Frage mehr steckte, als es den Anschein hatte.
Ich sagte: »Fludd hat die Dinge korrekt vorausgesehen. Dort, wo das nicht der Fall war, lag das an Caterina – und da hat wiederum sie die richtigen Dinge prophezeit. Du und ich, wir beide haben keinerlei Möglichkeit herauszufinden, was uns in ferner Zukunft erwartet.«
Gabriel grunzte.
»Aber«, fuhr ich fort, »ein Mann kann seine eigenen Schlüsse ziehen. Wenn man zum Beispiel annimmt, dass das, was für die unmittelbare Zukunft vorhergesagt worden ist, der Wahrheit entspricht, dann … Nun, dann war Saburo kein Narr, weil er für etwas gestorben ist, das noch in weiter Ferne liegt.«
Gabriel grunzte erneut. »Es ist ja nicht so, als könnten wir deshalb irgendwas tun, Raoul. Wir können schon von Glück reden, wenn wir Goa erreichen, ohne vorher wie die Ratten zu ersaufen.«
Zu meiner Überraschung war mein erster Gedanke bei diesen Worten, zu Messire Fludd zu gehen und aus ihm herauszuprügeln, wie sicher unsere Reise war.
Aber wenn es schon so weit war, dass ich auf sein Wissen vertraute …
»Lass mich nachdenken«, sagte ich zu Gabriel, und er nickte zufrieden und ging.
Wissen ist Macht – oft jedenfalls. Ein Spion weiß das. Wer sonst, wenn nicht ein Spion?
Erneut blickte ich die mit Stoff verhangenen Masten hinauf in den unendlichen Himmel. Bis jetzt war das Wetter gut. Aber wenn ein Mensch wissen würde, was ihn auf der Fahrt erwartet …
»Hätte er dann keine Verantwortung?«, fragte ich leise in der Hoffnung, dass es die Dinge realer für mich machen würde, wenn ich sie aussprach. »Eine Verantwortung seinen Gefährten gegenüber, eine Verantwortung, sie vor Stürmen zu warnen … oder die Wellen zu glätten, wenn das in seiner Macht stünde?«
Auch im hohen Alter bin ich es noch nicht gewohnt, in diesen Bahnen zu denken. Ich wünschte, ich könnte noch einmal mit Tanaka Saburo reden. Wir könnten noch einmal über dieses Wort reden, mit dem er ›Pflicht‹ bezeichnet, giri, und er könnte mir erklären, warum er es mit ›Last‹ übersetzt.
Er und ich, wir beide waren in der gleichen Position … und er hatte seine Entscheidung getroffen.
Ich schloss die Hände um das von Salz bedeckte Holz der Reling und blickte zum Horizont.
Seit ich in Paris aufgewacht und losgezogen war, um König Heinrich zu ermorden, war ich die Marionette anderer gewesen. Egal ob ich nun gut oder schlecht gespielt hatte, die Karten hatte ich nicht gegeben.
Ich wusste um Doktor Fludds Können und was es bedeutete, diesen Mann in der Gewalt zu haben. Ich wusste nur noch nicht, was ich tun sollte … aber offensichtlich konnte ich der Angelegenheit nicht einfach wieder den Rücken zukehren und sie Fürsten und Königen überlassen.
Wer sonst wusste diese Dinge noch und hatte die Macht zu handeln, wenn nicht ich?
Ich stieß Robert Fludd grob über das Deck der Santa Theodora und vor mir in die Kabine, bevor ich mich duckte, um mir den Kopf nicht am Türsturz zu stoßen.
Wenn ich etwas unternehmen will, muss ich zuerst dafür sorgen, dass alle offenen Fragen geklärt sind.
Mademoiselle Dariole, die noch immer auf dem Bett lag, richtete sich erschrocken auf den Ellbogen auf und stieß ein ersticktes Geräusch aus.
»Mademoiselle … da wäre ein Arzt.«
Dariole starrte mich ungläubig an. »Haltet Ihr es für klug, das da in meine
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