1616 - Mörderengel
der dafür sorgte, dass wir uns auf gleicher Höhe befanden. Jetzt musste der andere Fahrer etwas unternehmen.
Er drehte den Kopf.
Sein glattes Gesicht mit den hellen Augen zeichnete sich hinter der Scheibe ab.
Mir gefiel das Grinsen in dem künstlich wirkenden Gesicht nicht. Es war die Ouvertüre zu einem Drama, das der Mörderengel jetzt in Szene setzte. Er wollte uns von der Seite her rammen und quer von der Straße fegen.
»Achtung!«, rief ich.
Suko hatte bereits reagiert und war auf die Bremse getreten. Wir fuhren auf der rechten Überholspur, der Mörderengel in seinem Jaguar nicht, aber da, wo wir hatten sein sollen, war plötzlich die Lücke, in die Rasmus hinein schoss.
Nicht mal eine Sekunde später hatte er die Begrenzung der Straße erreicht. Und genau dort gab es die Leitplanke, die zwar stabil aussah, dem Druck des Jaguars aber nicht standhielt.
Sie brach ein wie dünnes Holz, und Rasmus jagte ungebremst in das Gelände.
Hinter uns dröhnte wieder das Hörn des Truckers. Andere Autos huschten an uns vorbei. Wir fuhren mit der Warnblinklampe, und Suko ließ den Rover langsam ausrollen.
Ich hatte nur Augen für den Jaguar.
Hätten hier Bäume gestanden, wäre es mit ihm vorbei gewesen. So aber pflügte er mit seinen Rädern über eine Rasenfläche, die nicht unbedingt eben war. Er wurde hoch geschleudert, fiel wieder zurück, fuhr weiter, schwänzelte hin und her bis zu einer Anhöhe, die er nicht mehr hochkam.
Sie war zu steil, und so bohrte sich der rabenschwarze Jaguar mit seiner langen Schnauze in den Erdhügel hinein.
Wir standen in einer recht guten Sichtentfernung. Die Warnleuchte und das Licht auf dem Dach mussten reichen, um die anderen Autofahrer zu warnen und zur Vorsicht anzuhalten.
Was sich hinter uns auf der Autobahn abspielte, sahen wir nicht. Wir hörten nur das Hupen und zum Glück kein Krachen oder Bersten, wenn Autos ineinander rasten.
Wir waren erst ein paar Schritte gelaufen, da sahen wir, dass der Mörderengel das Wrack verließ, und es war nicht zu erkennen, ob er sich verletzt hatte. Er taumelte ein paar Schritte zur Seite und riss die Arme in die Höhe.
Nicht nur sie sahen wir, sondern auch die beiden Lanzen oder Speere, die er umklammert hielt. Er war noch voll da und hatte seine Waffen ebenfalls behalten.
Es war uns egal. Wir rannten auf ihn zu. Sukos Hand zuckte zur inneren Brusttasche. Ich wusste, dass er den Stab hervorholen wollte, um die Zeit für fünf Sekunden zu stoppen.
Leider war das nicht mehr möglich. Wir waren noch zu weit vom Ort des Geschehens entfernt. Und dieser Mörderengel zeigte uns, was eine Harke ist. Er riss seine Waffen hoch, allerdings nicht, um uns anzugreifen, zugleich breiteten sich an seinem Rücken zwei Schatten aus. Jedenfalls kamen sie uns so vor, aber es waren Flügel, und sie sorgten dafür, dass er in die Höhe stieg.
Nicht langsam, sondern sehr, sehr schnell, sodass die Bewegung mit den Augen kaum zu verfolgen war. Die Weite des grauen Himmels schien ihn förmlich aufzusaugen. So hatten Suko und ich das Nachsehen. Beide fühlten wir uns als Verlierer, und ich konnte die Verwünschungen nicht unterdrücken.
»Lass es gut sein, John. Er hat sein Ziel nicht erreicht.«
»Dank deiner Reaktion.«
»Klar. Er hat es sich leichter vorgestellt.«
Beide schauten wir noch mal in die Höhe. Es war vergebens. Rasmus sahen wir nicht mehr. Dabei war der Himmel der falsche Ort für ihn. Er hätte in die Erde und damit zur Hölle fahren müssen, wenn man den alten Überlieferungen Glauben schenken sollte.
Ich dachte plötzlich wieder an London und damit an Glenda Perkins und all die anderen Freunde. Ich hatte gesehen, wie schnell der Mörderengel sein konnte. Die Entfernung zwischen uns und der Stadt war für ihn kein Problem.
»Komm, wir müssen zurück.« Suko drückte mir seine Hand gegen den Rücken.
Es stimmte. Wir konnten hier nicht länger bleiben.
Auf der Bahn lief der Verkehr normal weiter. Nur der Trucker hatte angehalten und war ausgestiegen. Er schaute uns entgegen, sein Gesicht war blass.
»Was ist das denn gewesen?«, fuhr er uns an.
»Was meinen Sie?«, fragte ich.
»Das mit dem Jaguar.«
»Er ist verunglückt.«
»Habe ich gesehen. Da ist noch was gewesen. Ich sah einen Mann, der wegflog.«
Es stimmte, nur konnten wir das nicht zugeben, deshalb lachten wir beide.
Der Fahrer bekam einen roten Kopf, wollte etwas sagen, doch Suko kam ihm zuvor.
»Ich denke nicht, dass dort ein Mensch in die Luft geflogen ist.
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