162 - Das Grauen aus der Baring Road
nur dem animalischen Instinkt, der schon bald sein Denken beherrschte.
Ein unbändiger Hunger machte sich bemerkbar. Slikker hörte jetzt Geräusche, die ihm früher entgangen waren. Hinter den Bäumen und Sträuchern quakten Enten. Er verließ den Weg und hastete über die ausgedehnten Rasenflächen. Niemand begegnete ihm. Daß er deutliche Spuren hinterließ, störte ihn herzlich wenig.
Ein kleiner See lag vor ihm, mit Binsen, Schilfrohr und Seerosen. Welkes Laub bedeckte den umlaufenden Wanderweg, und die aufgestellten Ruhebänke trieften vor Nässe. Mit einem letzten Rest klaren Denkens erfaßte der Mann, daß er sich im Gebiet von St. John's aufhielt, also nur wenige Querstraßen von seinem Arbeitsplatz entfernt.
Die Enten, die er gehört hatte, verbargen sich unter überhängendem Schilf. Sie stoben nach allen Richtungen auseinander, als sie plötzlich in ihrer Ruhe gestört wurden. Krallenhände packten zu und ließen ihre kläglichen Schreie schnell verstummen. Wohlig grunzend schlang Slikker fast alles in sich hinein. Nur Federn und Flügel blieben zurück.
Fürs erste war der Hunger gestillt. Als er sich erhob, fiel sein Blick auf den klaren Spiegel des Sees. Ein Monstrum glotzte ihn an, aus großen, hervorquellenden, blutunterlaufenen Augen. Sie saßen in einem Echsenschädel, der nur mehr vage die früheren Gesichtszüge erahnen ließ. Die gesamte Mundpartie, Kinn und Wangenknochen hatten sich vorgeschoben und bildeten einen lippenlosen, verhornten Rachen mit fingerlangen Reißzähnen.
Wütend riß Slikker die letzten Fetzen seiner Kleidung von sich ab. Er empfand so gut wie nichts beim Anblick seines Spiegelbilds. Mehrere Fische in Ufernähe entgingen seiner Gier nur, weil er vor dem Wasser zurückschreckte.
Erneut verspürte er Heißhunger. Drängender als zuvor.
Und mit dem Hunger wuchs die Mordgier.
Gefrühstückt hatten sie nicht gerade in entspannter Atmosphäre. Das Geschehen der vergangenen Nacht schwebte wie ein Alpdruck über ihnen und ließ sich auch durch das eisige Schweigen nicht vertreiben, mit dem der Dämonenkiller sich anfangs umgab.
Nachdem sie ihm das dritte Mal Kaffee eingeschenkt hatte und Dorian mindestens schon die fünfte Players rauchte, nahm Miß Pickford kurzerhand den Aschenbecher vom Tisch.
„Was soll das?" fragte Hunter gereizt.
„Wenn Sie schon nicht auf Ihre Gesundheit achten, dann tue ich es wenigstens", erwiderte die Haushälterin.
„Kümmern Sie sich lieber um Ihr eigenes Wohl, Miß Pickford."
„Sobald ich es versuche, hören Sie mir nicht mehr zu."
Dorian ließ die Zeitung sinken, in der er gelesen hatte, und bedachte die Frau mit einem mitleidigen Blick.
„Weil Sie nur noch von diesem gräßlichen Vampir reden und darüber Ihre eigentlichen Aufgaben vergessen. Überlassen Sie die Dämonenjagd denen, die etwas davon verstehen."
„Meinen Sie damit sich selbst, Mr. Hunter?"
„Miß Pickford!" Dorian sprach den Namen so scharf aus, daß sie unwillkürlich zusammenzuckte. „Sie wollen die Zusammenhänge einfach nicht sehen", versuchte sie sich zu rechtfertigen. „Dabei ist alles ganz einfach. Der Vampir war in der Villa und wurde vertrieben. Auf der Straße vor dem Grundstück muß ein zufällig daherkommender Autofahrer seinetwegen bremsen. Dem Vampir gelingt es, über den Mann oder die Frau herzufallen, was wiederum den Unfall etliche hundert Meter weiter erklärt."
„So einfach ist es also", spottete Trevor Sullivan, der bislang nur schweigend dagesessen und ebenfalls in einer Zeitung geblättert hatte. „Und so einfach ist es neuerdings für Dämonen, in die Villa einzudringen. Trotz aller Bannzeichen ringsum."
„Ich weiß", seufzte Martha Pickford und zuckte mit den Schultern. „Aber dafür werde ich noch eine Erklärung finden."
„Verschonen Sie uns bitte damit." Dorian Hunter fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, schob die erst halb geleerte Tasse zur Seite und erhob sich. „Übrigens, werte Miß Pickford", seine Stimme nahm einen sarkastischen Klang an, „der Kaffee schmeckt abscheulich nach Knoblauch. Sie sollten daran denken, sich irgendwann zur Ruhe zu setzen."
Bevor sie ihre Verblüffung überwinden konnte, verschwand er im Korridor, der zur Treppe führte. Trevor Sullivan faltete seine Zeitung säuberlich zusammen und erhob sich ebenfalls.
„Geben Sie sich keine Mühe", sagte er, als Martha Pickford die Kaffeetasse nahm und daran roch, „alles stinkt nach Knoblauch." Er ging ebenfalls in den Keller hinunter.
Die
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