162 - Das Grauen aus der Baring Road
Rausch war es über ihn gekommen und hatte ihn nicht zögern lassen, seine Fänge in das Fleisch zu schlagen. Der warme, süßliche Geschmack im Rachen wirkte belebend und stärkend.
So ist es gut,
vernahm Jeffrey Slikker ein verhaltenes Flüstern in seinem Schädel.
Sorge dafür, daß Palawaikö viele Seelen bekommt, dann wird es dir ebenfalls gutgehen.
Aber wie einem Rausch spätestens am nächsten Morgen Kopfschmerzen und ein gehöriger Kater folgen, so stellte sich ziemlich rasch ein Gefühl der Ernüchterung ein. Slikker stierte auf den Leichnam der Frau hinab und blickte sich dann in der Küche um, die eher einem Schlachtfeld glich. Scherben lagen herum, verstreutes Inventar, und überall waren diese gräßlichen roten Flecke, die er gierig und mit Abscheu zugleich betrachtete.
Er hatte getötet.
In ihm war noch so viel Menschlichkeit, daß er zumindest erfaßte, was er getan hatte. Fassungslos stand er da, konnte es nicht begreifen, und als sein Blick auf seine schuppigen Krallenhände fiel, begann er wie ein Besessener zu toben, riß in einem Anfall von Zerstörungswahn Türen aus ihren Angeln, warf Schränke um und demolierte alles, was nicht niet- und nagelfest war. Der Lärm, den er verursachte, mußte bis auf die Straße hinaus zu hören sein.
Das Klingeln an der Haustür ließ das Monstrum Slikker jäh innehalten. Er stieß ein gequältes Zischen aus.
Erneut klingelte es. Drängender diesmal.
Die Bestie fletschte die Zähne. Ein in der Diele hängender Spiegel zeigte ihr das eigene gräßliche Aussehen in aller Deutlichkeit. Die Menschen würden Jagd auf sie machen und nicht eher ruhen, bevor sie zur Strecke gebracht war. Töten oder getötet werden, hieß es. Für Jeffrey Slikker ein nur schwer vorstellbares, grauenhaftes Schicksal.
Jemand pochte jetzt mit den Fäusten an die Tür. „Sind Sie da, Miß McDermitt?" erklang es.
Am liebsten hätte Slikker ein Messer genommen und es sich selbst in die Brust gestoßen, um den Spuk ein schnelles Ende zu bereiten. Er konnte es nicht; das lautlose Lachen in seinem Schädel hinderte ihn daran.
Du bist mein Sklave.
Du
wirst leben, solange ich es will.
„Soll ich die Polizei rufen, Miß?"
„Verschwinde!" wollte Slikker antworten, doch es wurde nur ein scheußliches, lautes Fauchen daraus. Der Mann draußen vor der Tür, vermutlich ein Nachbar, der den Lärm gehört hatte, verstummte.
Mit aller Kraft wehrte Slikker sich gegen den Drang, ein zweites Opfer zu töten. Noch konnte er der stärker werdenden Gier widerstehen, aber zugleich wußte er, daß er wieder morden würde. Ein ungnädiges Schicksal hatte ihn dazu verdammt, wieder und immer wieder wie eine wilde Bestie über Menschen herzufallen.
An einem Garderobenhaken hing ein langer Pelzmantel - kein besonders wertvolles Stück, doch das war für seine Zwecke egal. Blitzschnell riß er den Mantel an sich, warf ihn sich über die Schultern und rannte in die Küche zurück, schwang sich auf die Arbeitsplatte und von da aus mit einem einzigen Satz durchs Fenster in den Garten.
Du kannst nicht vor dir selbst fliehen,
dröhnte es in ihm. Du
bist mein Geschöpf, eine Kreatur der Großen Schlange Palawaikö.
Im selben Moment, in dem Slikker im Rosenbeet vor dem Fenster aufkam, bog ein Mann um die Hausecke. „Hallo", rief er. „Da sind Sie ja. Ich…" Er verstummte gurgelnd, sein Gesicht überzog sich mit einer aschfahlen Blässe, als das Monstrum im Pelzmantel sich ihm zuwandte und ein durch Mark und Bein gehendes Fauchen ausstieß.
Nur mehr mühsam unterdrückte Slikker sein Verlangen nach warmem Blut. Taumelnd lief er über den Rasen auf den Gartenzaun zu; sein Schädel dröhnte regelrecht zu zerspringen, und in seinen Eingeweiden tobten höllische Schmerzen. Diese Schmerzen würden heftiger werden, je länger er kein neues Opfer fand.
Mit einem einzigen Satz schwang er sich über den Zaun und die davor stehende niedrige Hecke. Auf dem Gehsteig war niemand zu sehen. Blindlings hetzte Slikker weiter - auf der Flucht vor sich selbst und zugleich wissend, daß er keine Chance hatte, zu entkommen. Sein Schicksal würde ihn einholen, egal, wohin er sich wandte. Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis die aufkeimende Gier von neuem seinen Verstand verdrängte und ihn in ein blutrünstiges Raubtier verwandelte, das nichts anderes kannte als seine animalischen Gedanken.
In seinem Mantel durfte Slikker sich vor ungewollter Entdeckung einigermaßen sicher fühlen. Den Kragen hatte er hochgeschlagen und
Weitere Kostenlose Bücher