1626 - Die Nymphe
ernst. Gibt es irgendwelche Probleme?«
Sie trat zurück. »Bitte, Erica, frag mich nicht. Ich bin gekommen, um mit Martha zu sprechen.«
»Gut, ich sage ihr Bescheid. Warte einen Moment.«
»Gern.«
Erica verschwand, und Judy atmete erleichtert auf. Das war schon mal geschafft. Obwohl sie das Haus kannte, fühlte sie sich an diesem Morgen wie eine Fremde. Einen derartigen Grund wie heute hatte sie noch nie für einen Besuch gehabt. Sie war gespannt, wie Martha Lee ihren Bericht aufnehmen würde.
Von den anderen Frauen war nichts zu hören und nichts zu sehen. Stille umgab sie. Die holzgetäfelten Wände schienen diese Ruhe auszuatmen.
Nicht weit von ihr entfernt stand ein ovaler Tisch, dekoriert mit einer Blumenvase, aus deren Öffnung ein Strauß hervorschaute, der aus Judys Laden stammte.
Sie ging hin und her. Die Zeit wurde ihr lang. Gedanklich beschäftigte sie sich mit dieser ungewöhnlichen Erscheinung, die sich selbst als Nymphe bezeichnet hatte.
Wie würde die Chefin des Hauses wohl darauf reagieren, wenn Judy davon erzählte?
Sie konnte es nicht sagen. Es war alles in der Schwebe. Judy hoffte nur, dass man sie nicht auslachte und wieder fortschickte.
Erica sprach sie an.
»Hi, da bin ich wieder.«
Judy schrak zusammen und fuhr herum. Erica stand vor ihr und lächelte, was ein positives Signal war.
»Und? Hat Martha Zeit?«
»Sicher. Für dich doch immer.«
»Oh, danke.«
»Den Weg kennst du ja.«
»Und ob.« Judy fühlte sich erleichtert. Die Beine hatten ihre Schwere verloren, und sie glaubte beinahe, über dem Boden zu schweben, als sie den Weg zu Marthas Büro einschlug.
Sie musste links an der Treppe vorbei und tauchte in einen Gang ein.
Der Boden war beinahe so blank wie ein Spiegel. An den Wänden hingen Bilder von Frauen, die mal berühmte Beginen gewesen waren.
Vor der Tür wollte Judy stehen bleiben und sich noch mal konzentrieren, doch die Stimme von innen ließ das nicht zu.
»Dann tritt mal ein, Judy, ich freue mich auf dich.«
»Ja«, murmelte sie. »Hoffentlich bleibt es auch dabei…«
***
Auch Martha Lee trug das Kleid wie eine Uniform. Sie saß hinter ihrem Schreibtisch und hatte ihren Laptop zur Seite geschoben, um Judy ansehen zu können.
Da das Zimmer sehr groß und mit drei Fenstern ausgestattet war, fiel genügend Licht herein, sodass Martha gut zu erkennen war.
Martha Lee war eine stattliche Frau von mehr als fünfzig Jahren. Ihr graues Haar hatte sie zu den Seiten gekämmt, sodass es dort wie zwei Vorhänge hing und die Ohren bedeckte.
Das Gesicht zeigte schon einige Falten, aber trotzdem wirkte Martha Lee frisch, was auch an ihren braunen Augen mit dem hellwachen Blick lag, den sie auf Judy May gerichtet hatte.
»Da bin ich aber überrascht, dass du mich besuchst. Komm, setzen wir uns.«
Gemeint war eine Sitzgruppe, die aus einem Tisch und vier Sesseln bestand. Der Raum war groß genug, um auch sie aufzunehmen, ohne dass es eng wurde.
»Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?«
»Wasser, wenn möglich.«
»Sicher.«
Judy nahm auf dem Stuhl Platz, dessen Sitzfläche aus einem hellen Geflecht bestand. Sie versenkte sich in ihre eigenen Gedanken und überlegte, wie sie anfangen sollte.
Erst mal erhielt sie ein mit Mineralwasser gefülltes Glas. Beide Frauen tranken, bevor Martha Lee ihren Blick auf die junge Besucherin richtete.
»Du siehst mir heute nicht so fröhlich aus wie sonst, Judy. So kenne ich dich gar nicht.«
»Sie haben recht. Mir geht es auch nicht besonders.«
»Und deshalb sitzt du hier?«
Judy nickte.
»Bist du krank?«
»Nein, nein«, sagte sie schnell. »Ich bin nicht krank. Zumindest körperlich nicht.«
»Das ist schwer zu verstehen.«
»Ich werde es Ihnen sagen.« Judy schaute die Frau intensiv an. »Aber Sie müssen mir versprechen, mich nicht auszulachen. Bitte, hören Sie mich an.«
»Keine Sorge.« Martha Lee schüttelte den Kopf. »Ich bin es gewohnt, mir die Sorgen und Probleme anderer anzuhören und entsprechend zu reagieren.«
»Aber bei mir sieht es anders aus. Da ist es alles andere als leicht, einen Rat zu geben.«
»Das werden wir sehen. Erst mal muss ich wissen, was dich zu uns geführt hat.«
»Ja, das sollen Sie auch, Martha.« Sie trank noch einen kräftigen Schluck und sammelte sich, bevor sie anfing. Dann war sie nicht mehr zu halten. Es brach aus ihr hervor. Während des Erzählens schien das Erlebte noch mal vor ihren Augen abzulaufen, und deshalb konnte sie ihre Emotionen einfach nicht stoppen. Sie
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