1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
seiner Brust, welche die holde, süßlockende Gestalt, der er am Fuße des St. Bernhard begegnet war, erweckt hatte, führten nur ein Lächeln wehmütiger Sehnsucht auf seine Lippen. Was er stets als einen Traum, als eine flüchtig zerrinnende Erscheinung betrachtet hatte, das konnte keine tiefen Wurzeln des Grams in seine Seele treiben.
Er kannte nur den Kummer um das Los seines Vaterlandes, der freilich dunkle Schatten auf den Hintergrund seiner sonnigen Lebensflur warf, und jenen Schmerz, man möchte ihn oft auch ein Glück nennen, den das unbefriedigte, unbestimmte Drängen und Treiben erzeugt, welches in jeder jugendlichen Brust stürmt. Mit diesen Gefühlen stieg er den Hügel vor Duomo d'Ossola hinan; da erblickte er das geheimnisvolle Zeichen des grünen Schleiers – und von jenem Augenblicke an wurde die leise bewegte Flut seines Lebens in stürmischen Wellen gehoben, und die Woge verschlug ihn wild in die weiteste Ferne und Öde. Wenn er sich jetzt in der Tiefe des Russischen Reichs, auf einem mit Leichen bedeckten, blutgedüngten Schlachtfelde erblickte, wenn er gedachte, daß die Mutter fern von ihm in der stillen Gruft schlummerte, die Schwester einsam und verlassen stehe, das Bild der Geliebten in das Meer einer ewigen Nacht versunken war, dann gab es Augenblicke, wo er mit krampfhaftem Schmerz ausrufen wollte: Erweckt mich, erweckt mich aus diesem fürchterlichen Traume! Da fühlte er, daß Bernhard, der still an seiner Seite ritt und den wie das Grab schweigenden Freund mitleidig betrachtete, seine lässig herabhängende Rechte mit warmer Liebe ergriff und drückte; und die verwirrenden, betäubenden Bilder des Schmerzes verließen sein Haupt, und eine sanftere Rührung senkte sich in seine Brust, wie wenn giftige Nebel bei dem Strahl einer milden Sonne als Tränentropfen des Taues niedersinken.
»Du bist so ernst und verschlossen, Ludwig,« redete der Freund ihn an; »du solltest das Auge heiter zum Himmel aufschlagen, da wir uns nach diesem blutigen Tage noch lebend beieinander finden. Es darf uns ein Unterpfand sein, daß unser seltsames Geschick zu einem glücklichen, entscheidenden Ausgange führen wird. Ich bin nicht sonderlich fromm, wie man es gemeinhin zu verstehen pflegt, aber nach einem solchen Tage, wo die Donner Gottes ringsumher rollten und seine Blitze einschlugen, sehe ich doch etwas bewegter als gewöhnlich zu den kleinen Sternen da oben hinauf, wenngleich sie nur verstohlen durch das treibende Herbstgewölk blitzen.«
»O Bernhard,« erwiderte Ludwig, »wie hast du recht! Wenn ich dich neben mir sehe, lebend, frisch wie an diesem Morgen, dann wendet sich meine Seele wahrlich dankbar zu dem ewigen Vater. Doch ich fühle auch zugleich, wie namenlos tief der Abgrund der Schmerzen sein kann. Freund, ich fühle, was ich verlor, und bebe vor dem, was ich noch verlieren kann! Wenn nun der mörderische Tod, der nur so wenig von unsern Getreuen verschonte, auch die hinweggerafft hätte! O dann wäre mir besser, ich läge auch auf diesem dunkeln Felde!« – »Und Marie?« fiel Bernhard ein. – »Ihr müdes Haupt würde sich bald zu mir senken.«
»Wohl, zu dir «, betonte Bernhard mit einer schmerzlichen Heftigkeit, welche der Freund, durch die eigenen Bekümmernisse zu mächtig ergriffen, nicht bemerkte. Mir freilich, wollte er bitter hinzusetzen, würde kein Gedanke, kein Wunsch nachfolgen, wenn ich als eine gute Mahlzeit der Raben, die hier über uns schwirren und krächzen, auf diesem wüsten Schlachtfelde vermoderte. Doch er bannte, gewohnt sich streng zu beherrschen, die Gedanken von seinen Lippen in die Brust zurück und sagte mit fast gleichgültigem Tone: »Sprich nicht so frevelhaft, Ludwig. Freilich soll sie ihr Haupt bald zu dir neigen, aber eine von Freude gerötete, von süßen Tränen genetzte, liebliche Wange gegen deine warme, lebensvolle Brust.« – »Hoffst du das?« – »Gewiß, und gerade heute nach der Schlacht am meisten. Denn der Sieg ist auch der Friede, der Friede die Heimkehr, diese die Versöhnung mit allen noch grollenden Schicksalsmächten, wenn ich den französischen Schuften nicht zu viel Ehre antue, ihre hämischen Kreuzspinnengewebe mit dem Gespinst der Parzen zu vergleichen.«
Hier wurde ihr Gespräch dadurch unterbrochen, daß Bernhards Pferd stolperte und auf die Knie niederfiel, so daß er fast über den Kopf desselben hinabgestürzt wäre. »Was ist das?« rief er, es emporreißend. »Der Teufel, ich glaube es war ein Leichnam, über den ich
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