1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
ganze Begegnung war die von Bruder und Schwester; sind wir es nicht, nun so will ich wenigstens den Traum festhalten, und keine platte Wirklichkeit soll mich unangenehm störend daraus wecken. Ich habe den Hahnenschrei niemals leiden können; vollends aber wenn er gellend in die Sphärenmusik eines Traums einkreischt und uns aus den ätherischen Räumen, in denen wir zu schweben wähnten, auf eine derbe Matratze hinabwirft, wo wir faul und gähnend die müden Glieder strecken. Aber wahrlich, Freunde, es ist Zeit dazu; ich muß mich schlafen legen, gute Nacht!« Er stand auf und ging hinaus. Ludwig folgte ihm; er mußte ihn einsam, warm ans Herz drücken. Da fühlte er, daß Bernhards Wange naß war; doch kein Wort der Klage kam über seine Lippen, sondern er riß sich trotzig los und sprach nur: »Gute Nacht!«
Ludwig kehrte zu Rasinski zurück. Erst jetzt traten seine eigenen überraschend umgestalteten Lebensverhältnisse stärker in seiner Empfindung hervor. »Es ist eigen,« sprach er zu dem ältern Freunde, »ich gewinne nichts, ich verliere nichts bei dem Umtausch des Namens, bei der Nachricht von meinem Vater, den ich schon seit zwanzig Jahren unter die Toten zu zählen gewohnt bin; und doch ist mir, als hätte ich großen Gewinn und Verlust zugleich erlitten.«
»Die Möglichkeit beider tritt uns im ersten Augenblick zu nahe,« erwiderte Rasinski; »doch glaube ich, Bernhard hat recht, wenn er behauptet, diese Eindrücke verlieren sich am Ende ganz. Wir haben ja soeben gesehen, wie ihn selbst die Überraschung plötzlich, gewaltsam mit sich fortriß; die Wogen seiner Seele stürzten sich brausend übereinander wie ein Wasserfall; jetzt sehen wir den Strom höchstens noch mit bewegt wallender Flut zwischen seinen Ufern dahinziehen.« – »Er ist vielleicht desto tiefer!« bemerkte Ludwig. – »Möglich! doch am Ende verläuft selbst der Rhein im Sande. Werden Schmerz, Erwartung, Hoffnung nicht aus neuen Quellen genährt, so glaube mir, als deinem ältern Freunde, sie versiegen zuletzt alle, und wenn sie anfangs in noch so wilder Flut alle Uferdämme durchbrechen.«
Ludwig las Mariens Brief noch einmal durch und verlor sich in ein vertieftes Sinnen über diese neuen unvermuteten Wendungen, die der Strom seines Lebens nahm. Rasinski, von schweren Gedanken erfüllt, ging auf und nieder im Gemach. Es schlug jetzt neun Uhr.
»Bernhard hat recht,« nahm Rasinski das Wort, »die ermüdete Natur läßt sich nicht abweisen. Wir müssen uns zur Ruhe legen. Wer weiß, was die nächtlichen Stunden uns für eine Störung bringen; denn mir ist, aufrichtig gestanden, noch immer nicht ganz wohl zumute in dieser verlassenen Stadt. Es sieht mir fast aus wie die abgesegelte Flotte der Griechen vor Troja, die in der Nacht zurückkehrte.«
Diese Worte erinnerten Ludwig erst wieder an die Beobachtungen, welche Bernhard gemacht hatte, und die beiden über die unerwarteten Nachrichten der Briefe aus Deutschland ganz aus dem Sinne gekommen waren. Er erzählte Rasinski, was Bernhard gesehen haben wollte. »Hm! In solcher Art kann uns unmöglich etwas Feindseliges drohen!« erwiderte dieser. »Wahrscheinlich sind es scheue Diener oder alte kranke Leute, die nicht mehr zu fliehen vermochten und sich hier versteckt halten, weil sie uns fürchten. Rostopschin schildert uns ja in allen seinen Proklamationen als Mörder und Tempelräuber; wie soll man es dem armen Volke übel deuten, wenn es sich vor solchen Ungeheuern fürchtet und verkriecht! Lassen wir die Leute wenigstens für diese Nacht in Ruhe. Morgen will ich das ganze Schloß durchsuchen lassen. Die Wache im Tore, meine Bedienten, die auf dem Vorsaal schlafen, und am Ende wir selbst sind uns Sicherheit genug. Auch steht es ja bei uns, uns schlagfertig zu halten. Ich meinesteils wenigstens hätte so schon wie im Biwak geschlafen, in meinen Mantel gewickelt, völlig angekleidet, die Pistolen zur Seite. Das ist aber auch der äußerste Grad von Vorsicht, und ich würde ihn auch nicht deiner Nachricht wegen anwenden, sondern weil ich überhaupt darauf gefaßt bin, daß wir diese Nacht alarmiert werden. Also das laßt euch nicht beunruhigen; im übrigen aber wißt, daß wir nur im Biwak liegen. Gute Nacht, lieber Freund! Ich denke, der morgende Tag wird sehr entscheidend ausfallen.« Ludwig ging.
Als er durch den langen Saal schritt, der sein Schlafzimmer von Rasinskis Wohnung trennte, wurde es ihm fast schauerlich zumute in dem weiten, einsamen Gemach, wo die leiseste Bewegung
Weitere Kostenlose Bücher