1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
Rührung drang in sein Herz; er empfand im Traum die Freude des Wiedersehens, welche die Wirklichkeit ihm grausam geraubt hatte. Er sah sich auf dem Spaziergange nach Pillnitz; seine freundlichen Jugendgespielinnen begleiteten ihn. Plötzlich schreckte er freudig zusammen, denn Marie kam ihm aus einem Laubgang entgegen und ging Arm in Arm mit Bianka, vertraut an ihre Seite gelehnt, als wenn beide Schwestern wären. »So, liebt euch, ihr Geliebtesten, die ich auf der Erde habe«, sprach er im Traume, und ein Lächeln schwebte um seine Lippen. Er wollte ihnen näher treten, ihnen die Hand reichen; doch ein Fremder hielt ihn zurück. Es war Rasinski, der ihn aufforderte rasch zu Pferde zu steigen. Die lieben Gestalten verschwanden, er sah sich wieder mitten in dem unruhigen Verkehr des Feldzugs; lange, unendliche Reihen von Kriegern zogen an ihm vorüber; er schloß sich den Scharen an, aber doch quollen unaufhörlich neue Gestalten neben ihm hervor und schwebten an ihm hin. Verweilen und Vorwärtsdringen geschah zugleich, wie so oft das Doppelte und Widersprechende im Traume. Jetzt glaubte er in Moskau einzuziehen; er ritt mit Bernhard und Rasinski durch die Straßen, die sich in unabsehbarer Ferne vor ihm hinzogen. Die Häuser und Paläste ringsumher verwirrten sich vor seinen Blicken; er sah stets den vor sich, den er bewohnte, doch drängten sich immer neue Gassen dazwischen, ehe er ihn erreichen konnte. Mit jedem Schritt schien der Weg sich zu verlängern. Endlich hielt er mit Rasinski und Bernhard vor dem Tor; sie saßen ab und gingen die Stiegen hinauf. Erschöpft legte er sich im Traum in demselben Zimmer, auf demselben Bett zur Ruhe nieder, wo er eben wirklich schlief. Traum und Wirklichkeit begannen sich verworren zu mischen. Er hörte den Anruf einer Schildwache von der Straße herauf und erwachte dadurch. Da aber sein geöffnetes Auge dieselben Bilder sah wie das schlummernde, nämlich das vom düstern Glanz der Wachtfeuer matt beleuchtete Gemach; da sein wachendes Ohr dieselben Töne vernahm wie sein schlummerndes, so floß ihm in der Betäubung, die noch auf seinen Gliedern lastete, Wahrheit und Schein untrennbar durcheinander. So sah er, halb träumend, halb wachend, die Tür des Gemachs sich langsam öffnen und eine schwarz gekleidete, verschleierte Gestalt, die eine düster brennende Ampel in der Hand trug, eintreten. Sie schwankte geisterhaft, langsam näher; jetzt stand sie dicht an Ludwigs Lager still und schlug mit der Rechten die Hülle zurück, welche das Antlitz verbarg; der Schimmer ihrer Leuchte fiel darauf. Es war Bianka, aber bleich und mit gramvollen Zügen. »Wo ist Marie?« fragte Ludwig das Traumbild, »und weshalb kommst du in Trauerkleidern, Geliebte? Ach, du beweinst wohl auch meine Mutter!« Mit schmerzlichem Verlangen streckte er der Geliebten die Hand entgegen; stumm, bebend stand sie vor ihm. Es schien, als wolle sie sich über ihn neigen; doch plötzlich bebte sie zurück, hielt die Hand abwehrend, wie zum Zeichen, daß er sie nicht berühren dürfe, vor sich hin und bewegte langsam verneinend das edle Haupt.
»Du fliehest schon wieder? Warum höhnt ihr mich so, ihr holden Traumbilder!« sprach Ludwig in dämmernder Verworrenheit des Traums. »Zeigt euch nicht, wenn ihr stets von mir entfliehen wollt.« Er schauerte, wie durch einen Nachtfrost berührt, zusammen und hüllte sich tiefer in den Mantel. Das Gesicht war verschwunden. Doch aus der Dunkelheit der Nacht hörte der Träumende die Worte: »Fliehe, fliehe! Deinem Leben droht Gefahr unter diesem Dache! Nimm dies zum Angedenken!«
Wie leise Geisterberührung streifte es über seine Wangen. Er erwachte; mühsam hob er die zurückgesunkenen Augenlider empor. Doch alle Bilder seines Traumes lagen wie in Nebeldämmerung um ihn her. Biankas Gestalt verschwand wie ein Schatten; der Feuerglanz an der Decke war trübe umnachtet; alle Gegenstände, selbst die beleuchteten Fenster, schienen ihm von einem schwarzen Gespinste bedeckt. Mühsam suchte er die noch ganz verstörten Sinne zu sammeln; da schallte ein Schuß aus dem Nebengemach in sein Ohr. Dieser kriegerische Ton riß ihn gewaltsam aus den Banden des Schlafes auf; er war munter, raffte sich empor. Doch blieben ihm die Gegenstände wie vom Rauche umnebelt, und jetzt war es nicht mehr Täuschung des Traums, sondern sein Auge mußte auf unbegreifliche Weise geblendet sein. Da fühlte er wieder, wie zuvor im Halbschlummer, ein ähnliches geisterhaftes Berühren auf Stirn und
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