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1812 - Ein historischer Roman (German Edition)

1812 - Ein historischer Roman (German Edition)

Titel: 1812 - Ein historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ludwig Rellstab
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und Wagen, den Gegenstand zu erkennen. Als sich einen Augenblick lang eine Lücke bildete, gewahrte man aber, daß es ein ungeheueres goldenes Kreuz sei. »Es ist,« sprach Jaromir mit ernstem Tone, »das Kreuz des heiligen Iwan, welches auf dem Turm des Kreml stand. Die Russen verehren es als das höchste Heiligtum, als das Palladium der Stadt. Aus meinem Fenster konnte ich die Abnahme desselben sehen. Es war ein grauer Tag; die Abenddämmerung hatte schon begonnen. Zahllose Raben durchkreuzten die Luft und flatterten krächzend um den hohen glänzenden Gipfel. Man hatte ein Gerüst gebaut, Leitern angelegt, Winden aufgestellt, Seile gezogen; die Arbeiter waren ununterbrochen tätig – doch die Schar der Raben wich nicht, sondern umschwirrte mit ihrem heisern Geschrei bald in weiten, bald in engern Kreisen das strahlende Kreuz. Unter meinem Fenster stand ein Haufe von Russen; es waren auch viele Weiber dabei. Sie kreuzten die Arme über die Brust, beugten sich ehrfurchtsvoll und murmelten leise Gebete. Eins der Weiber, groß, abenteuerlich gekleidet, ein rotes Tuch gleich einem Turban um das graue Haar gewunden, stand unter ihnen, hob die Hände hoch empor, machte allerlei wunderliche Zeichen und sprach in unverständlichen Worten mit beschwörendem Ton. Der Anblick hatte etwas Grauenhaftes. Als jetzt die Winden anrückten und das Kreuz sich zu senken begann, da erhob die Schar ein lautes Geheul, schlug sich die Brüste, raufte sich das Haar und stäubte wie entsetzt auseinander. Es schien, sie hatten gehofft, durch ihre Gebete und Beschwörungen das Heiligtum zu retten, und waren nun außer sich vor Grausen, da sie dasselbe unter entweihenden Händen fallen, ihre Götter besiegt sahen. Indem erschallte in der Luft ein lautes Krächzen und Rauschen; das ganze Volk der Raben, wie erschreckt, daß ihre alte Zufluchtsstätte, das Kreuz, unter dem sie ihre Nester seit Jahrhunderten gebaut hatten, plötzlich trügerisch wanke, flatterte aufgescheucht hinweg und zog in schwarzem Gewimmel unter den grauen Wolken dahin!«
    »Ein Nachtstück!« warf Bernhard hin. »Das Weib, das du schilderst, deucht mir, hätte ich auch gesehen, gleich am ersten Tage in Moskau, auf den Mauern des Kreml. Sie sah wahrlich aus wie eine Drudenmutter oder wie die Hexe von Endor.«
    Die andern schwiegen; doch fühlte jeder seine Brust von einem eigenen Grauen bewegt, zumal da Jaromir mit so ernst düsterm Ton, wie vordem niemals, sprach, und seine bleichen Lippen und Wangen, sein dunkel verglimmendes Auge das Herz der Freunde mit schauerlichem Gram erfüllte. Bernhard hing mit unverwandten Blicken an seinem Antlitz. Wohin war diese blühende Jünglingsgestalt geschwunden! Selbst das lockige blonde Haar schien matt herabzusinken von dem Scheitel. Sieht er sich selbst denn noch ähnlich? fragte sich Bernhard. Wenn du ihn neben das Bild stelltest, das du in Warschau von ihm gezeichnet, würdest du es denn noch erkennen? Er legte dem Jüngling die Hand treuherzig auf die Schulter. »Richte dich auf, Freund, raffe dich zusammen! Denke nicht an traurige Zeichen. Vor uns liegt der Krieg, da braucht man Mut und Kraft. Was warst du für ein Soldat! Ich wurde mutig, wenn ich dich sah, jetzt könntest du mich verzagt machen. Frisch, Bruder meines Herzens, schüttele herab, was deinen edeln Nacken beugt, und richte das Haupt wieder stolz empor!« Jaromir wollte eben antworten, als eine Wendung des Zuges um einen Hügel, der auf einige Augenblicke die große Straße ganz verdeckt hatte, die Reiter gerade auf dieselbe zuführte. Da Rasinski eben eine Lücke wahrnahm, wodurch er sich zwischen die Reihe der Wagen setzen konnte, befahl er Galopp zu reiten und sprengte selbst voran.
    Auf diese Weise wurde das Gespräch, welches Bernhard begonnen hatte, unterbrochen. Die Absicht Rasinskis gelang; er brach unversehens in die Lücke ein und war bald mit seinen Leuten auf der Straße, so daß er jetzt den Zug der Wagen teilte. »So,« sprach er zufrieden, »nun können wir doch wenigstens auf der Straße bleiben, solange es uns gefällt, und sie verlassen, wenn es uns gutdünkt.«
    Doch wie es bei solchen Märschen zu gehen pflegt, stockte die Bewegung bisweilen; man mußte mehrere Minuten halten, dann wieder rasch nachreiten. Dies machte den Marsch sehr unangenehm; auch hatte er sein voriges Interesse verloren, da man jetzt nicht mehr den Zug der Wagen weit übersah, sondern nur die nächsten Gegenstände überblickte.
    Der Kaiser war noch hinter Rasinskis Leuten;

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