1976 - Das Jesus-Papier
verlegen lächeln, seine eigene Fantasie war ihm peinlich. War er verrückt? Für wen hielt er sich? Was bildete er sich eigentlich ein? Der Bleistift fuhr instinktiv an die linke Seite der Zeile, bereit, das, was er geschrieben hatte, auszustreichen. Dann hielt er inne. Er war nicht verrückt, das war Teil der Kühnheit, an die er sich gewöhnen, Teil des Unnatürlichen, das ihm selbstverständlich werden mußte. Er nahm den Bleistift weg und schrieb ohne zu denken darunter: Andrew.
Wo war er jetzt? Hatte sein Bruder inzwischen Italien erreicht? War er um die halbe Welt gereist, ohne entdeckt zu werden? Würde er ihn in Campo di Fiori erwarten?
Und wenn er ihn erwartete, was würden sie zueinander sagen? Darüber hatte er nicht nachgedacht; er hatte nicht darüber nachdenken wollen. Es erging ihm wie bei einem schwierigen Plädoyer vor einer feindselig gestimmten Jury, er war nicht imstande, sich die Worte zurechtzulegen, sie einzuüben. Er konnte nur die Tatsachen ordnen und im richtigen Augenblick auf sein Denkvermögen vertrauen. Aber was sagte man zu einem Zwillingsbruder, der der Killer vom Eye Corps war? Was gab es zu sagen?
... Verliert nie aus den Augen... daß der Inhalt jener Kassette für die zivilisierte Welt so erschütternd ist, wie nichts anderes in der ganzen Geschichte...
Sein Bruder mußte aufgehalten werden. So einfach war das. Er sah auf die Uhr. Es war ein Uhr früh. Er war froh, daß er in den letzten paar Tagen nur wenig Schlaf gehabt hatte. Das würde ihm jetzt den Schlaf ermöglichen. Er mußte ausruhen. Morgen gab es viel für ihn zu tun.
Er ging auf den Angestellten hinter dem Empfangstresen im Hotel Pont Royale zu und gab ihm den Zimmerschlüssel. Er war seit fünf Jahren nicht mehr im Louvre gewesen. Es wäre geradezu eine Sünde, jetzt nicht hinzugehen, wo er doch so nahe lag. Der Angestellte nickte höflich, aber Adrian sah die verborgene Neugierde in den Augen des Mannes. Das war eine weitere Bestätigung dessen, was Adrian argwöhnte: Man verfolgte ihn, stellte Fragen.
Er trat in das helle Licht der Rue de Bac hinaus. Er nickte, lächelte dem Türsteher zu und schüttelte den Kopf, als dieser sich erbot, ihm ein Taxi zurufen.
»Ich gehe zum Louvre. Ich will zu Fuß gehen, danke.«
Am Bürgersteig zündete er sich eine Zigarette an, drehte sich halb zur Seite, wie um dem Wind auszuweichen und ließ seine Augen zu den großen Fenstern des Hotels wandern. Drinnen konnte er hinter dem Glas, von der Spiegelung der Sonne halb verdeckt, den Angestellten vom Empfang sehen, der mit einem Mann im hellbraunen Mantel sprach. Adrian war nicht sicher, glaubte aber, er hätte denselben Gabardinemantel vor zwei Stunden am Flughafen gesehen.
Er ging in östlicher Richtung die Rue de Bac hinunter, auf die Seine zu und den Pont Royale.
Der Louvre war überfüllt. Touristen mischten sich unter Busladungen von Studenten. Adrian ging die Treppe hinauf, vorbei an der geflügelten Viktoria, dann die Treppe nach rechts hinauf ins zweite Stockwerk und in die Halle mit den Meistern aus dem 19. Jahrhundert. Er schloß sich einer Gruppe deutscher Touristen an. Die Deutschen bewegten sich auf das nächste Gemälde zu, einen Delacroix. Adrian befand sich jetzt mitten in der Gruppe. Etwas geduckt, so daß einer der Deutschen ihm Deckung bot, drehte er sich um und sah in der Ferne das, was er hatte sehen wollen und doch gefürchtet hatte.
Der hellbraune Mantel.
Der Mann war vielleicht fünfzehn Meter entfernt und tat so, als läse er eine Museumsbroschüre, betrachtete dabei einen Ingres, der vor ihm an der Wand hing. Aber er las weder, noch betrachtete er das Bild; seine Augen lösten sich immer wieder von der Broschüre und wanderte zu den deutschen Touristen hinüber. Die Gruppe bog in den nächsten Korridor. Adrian hielt sich dicht an der Wand. Er schob die Besucher vor sich auseinander, entschuldigte sich, bis er an dem Führer vorbei war und sich von der Gruppe gelöst hatte. Er schritt schnell auf der rechten Seite die weite Halle hinunter und bog nach links in einen schwach erleuchteten Raum. Winzige Spotlights leuchteten von der dunklen Decke herunter und bestrahlten ein Dutzend Marmorstatuen. Plötzlich kam ihm in den Sinn, daß, wenn der Mann in dem hellbraunen Gabardinemantel den Raum betrat, es für ihn keinen Ausweg geben würde.
Andererseits, wenn der Mann jetzt hereinkam, gab es für ihn auch keinen Ausweg. Adrian fragte sich, wer von ihnen wohl mehr zu verlieren hätte. Er wußte keine
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