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2 - Wächter des Tages

2 - Wächter des Tages

Titel: 2 - Wächter des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Ich selbst hätte als Sitz für die Kommandozentrale ebendiesen Raum gewählt, doch Hellemar sagte mir, dass es in der Buchhaltung mehr Telefonanschlüsse gebe.
    Wie aus dem Nichts tauchte Juri auf. Mir schoss ein völlig unangemessener Gedanke durch den Kopf: Warum übernahm bei Abwesenheit des Chefs Edgar dessen Pflichten, obwohl er von seiner Kraft her an der Grenze zum zweiten Grad entlangbalancierte? Juri hielt ich für stärker. Doch es stand mir nicht zu, mich in die Angelegenheiten der Tagwache einzumischen, deshalb zog ich mich einfach in eine Ecke zurück und versuchte abzuschätzen, ob es mir gelingen würde, für zehn Minuten ins Restaurant zu flitzen. Die Techniker ließen bereits wie wild die Finger über die Touchpads gleiten.
    »Maschine im Anflug, verbleibende Zeit: zwanzig Minuten plus/minus fünf.«
    »Haben wir die Lichten schon gefunden?«, fragte Anna TM chonowna.
    »Ja. In einem Ruheraum, neben den Wartesälen. Im Nachbargebäude.«
    »Was tun sie?«
    »Offenbar wirken sie Wetterzauber«, meinte jemand.
    »Warum denn das? Wollen sie nicht, dass das Flugzeug landet?«
    »Na, die Passagiere werden sie doch nicht umbringen wollen«, schnaubte Anna Tichonowna.
    Ich hatte gedacht, es wäre am einfachsten, das Flugzeug zu zerstören und die Sache auf diese Weise zu Ende zu bringen. Aber Lichte bleiben Lichte. Selbst in einer solchen Situation machen sie sich Sorgen um die einfachen Menschen. Außerdem ist nicht bekannt, ob das Artefakt aus Bern bei einem Flugzeugabsturz Schaden nehmen könnte. Gesagt war das nicht. Kraft ist Kraft.
    »Wer von uns ist aufs Wetter spezialisiert?«, fragte Anna Tichonowna.
    »Ich!«, antworteten im Chor gleich zwei Hexen.
    »Gut, dann sondiert, was hier los ist...«
    Die Hexen streckten ihre Fühler aus, um die Umgebung im Hinblick auf Zauber abzuscannen, die das Wetter verändern. Ich spürte die dichten Fächer empfindlicher Energiesröme, die selbst die meisten Anderen nicht registrierten oder sahen. Nicht, dass Andere sie grundsätzlich nicht wahrnehmen könnten - die meisten konnten es nicht. Die Wettermagie hatte stets in den Händen der Hexen und einiger weniger Zauberinnen gelegen, und wie auf jedem Gebiet gab es dabei eine Menge Feinheiten zu beachten.
    »Sie treiben die Bewölkung zusammen«, verkündete eine der beiden Hexen. »Wir brauchen Kraft...«
    Ein Reservemagier griff sofort nach seinem Amulett, während er mit der andern Hand nach den Fingern der Hexe tastete. Einen Moment lang konzentrierten sie sich, und schließlich sanken alle drei, nachdem sie die Augen geschlossen und sich bei den Händen gefasst hatten, in eine Art leichter Trance.
    »Wer kann, soll ihnen helfen«, befahl Anna Tichonowna.
    Ich konnte ihnen noch nicht helfen. Genauer: Die Energie, die ich für diese Sache aufzubringen vermochte, konnte einem Vergleich mit der Kraft im Amulett nicht standhalten. Zu stark hatte ich mich auf dem Strastnoi Boulevard verausgabt...
    Die Tagwache ging ihrer Aufgabe nach. In der Kommandozentrale brodelte es irgendwie: Obwohl niemand rannte oder hastig hin und her lief, hing die Anspannung in der Luft. Ich fühlte mich nicht recht wohl in meiner Haut, denn ich war der Einzige hier, der nutzlos herumsaß. Und irgendetwas sagte mir, dass ich in den nächsten Minuten auch keine Hilfe sein könnte.
    Deshalb stahl ich mich davon. Ich erhob mich und tauchte ins Zwielicht. Und dann noch weiter, in die zweite Schicht.
    Der Fall vom ersten Stock kostete mich drei Minuten, wobei ich so gut ich konnte beschleunigte. Wie seltsam, dachte ich, dass das Zwielicht mich restlos auslaugt, ich mich aber - im Gegenteil - völlig frisch fühle, wie nach einer Dusche und hundert Gramm Wodka. Erstaunlich.
    Nebenbei bemerkt: Letzteres in die Tat umzusetzen gefiele mir jetzt nicht schlecht.
    Als ich aus dem Zwielicht auftauchte, wandte ich mich zum Nachbargebäude, einem länglichen Sechseck aus Glas und Beton, das überhaupt nicht wie ein Verwaltungsgebäude aussah und von einer Turmnadel gekrönt war, ein Relikt aus den in architektonischer Hinsicht pompösen Fünfzigern.
    Meine Jacke hatte ich im Stab gelassen, weshalb ich mich bis zum Eingang im Sprint üben musste. Der Wind trug kleine Schneekörner heran, und ich fragte mich, wie jetzt wohl die Maschine aus Odessa landen würde. Der Schnee, die Dunkelheit, das Wetter - einen Hund würde man da nicht vor die Tür jagen. Dann noch die Lichten, die sich offensichtlich so gut es ging abmühten, alles noch schlimmer zu machen.

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