2 - Wächter des Tages
Weil ich ein Dunkler bin. Und weil ich eine gewisse Zeit mit dir zusammengearbeitet habe. Fass das auf, wie du willst, aber ich würde dich lieber unter den gesunden Anderen sehen als unter den Schatten im Zwielicht. Tschüss, Edgar.«
Damit beendete Juri das Gespräch.
Eine Zeit lang stand Edgar noch da und hielt das Handy nachdenklich in der Hand. Dann verstaute er es an seinem Gürtel, nahm den Aktenkoffer und ging zur Kasse.
Beim Dunkel!, dachte der Magier. Was sollte denn das? Will er mich warnen? Von etwas abhalten? Und all das ganz klar über Sebulons Kopf hinweg. Er hat Alissa erwähnt...
Die Hexe Alissa hatte Sebulon einfach geopfert. Kaltblütig und ohne überflüssiges Mitleid. Wie einen Bauern in einem Schachspiel. Allerdings hätte es auch komisch angemutet, bei diesem Spiel der Wachen den gesichtslosen Figuren auf dem Brett Gefühle entgegenzubringen. Gleichwohl können auch die Anderen fühlen und lieben. Doch obwohl Edgar wie ein Mensch Mitleid mit Alissa empfunden hatte, hätte er keinen Finger gerührt, um sie zu retten, selbst wenn er gewusst hätte, was ihr bevorstand. Denn jedes Spiel hat seine strengen, ein für alle Mal festgelegten Regeln. Und wer das Spiel einmal angefangen hat, kann es weder abbrechen noch gegen die Regeln handeln. Die Hexe Alissa war gegangen, die Hexe Alita gekommen. Das Gesetz vom Erhalt der Handlungsfähigkeit. Alita wirkte sogar sympathischer...
Tief in seine Überlegungen versunken, bearbeitete Edgar die Kassiererin völlig automatisch. Sie händigte ihm ein blaues Büchlein aus, während das Ticket eines unglückseligen Passagiers annulliert wurde. Der Arme würde später fliegen müssen. Denn in der Welt der Menschen und der Anderen stellen Letztere die Regeln auf. Weshalb wollte Juri mich warnen?, grübelte Edgar an der Bar bei einem Glas Bier, das teuer war, aber nicht schmeckte. Sicherlich nicht aus Altruismus? So stark verletzt niemand die Regeln des Spiels.
Kurz erinnerte er sich daran, dass Sebulon, bevor er aus Moskau verschwand, weder Juri noch Nikolai - die beiden stärksten Dunklen Magier der Tagwache nach dem Chef - zum Stellvertreter ernannt hatte, sondern ihn, Edgar, der hinter diesen beiden deutlich zurückblieb. Juri war bereits im letzten Jahrhundert zum Magier außerhalb jeder Kategorie ernannt worden, bei Nikolai lag die Ernennung noch nicht so lange zurück, sondern war erst nach dem Krieg erfolgt. Edgar hatte bislang noch nicht einmal die erste Kraftstufe erreicht, selbst die zweite hatte er, offen gestanden, nur mit Einschränkungen erklommen. Natürlich handelte es sich bei Edgar um einen starken Magier. Natürlich war er stärker als die meisten Anderen in Moskau -und zwar sowohl Dunkle als auch Lichte. Trotzdem fiel er gegen Juri und Nikolai ab.
Warum hatte Sebulon das getan? Wollte Juri sich jetzt einfach rächen? Aus purem Neid? Ihn erschrecken oder (was gab es nicht alles!) den emporgekommenen Kollegen zum Besten halten?
Auch aus Estland hatte man Edgar irgendwie überstürzt und nicht ganz nachvollziehbar angefordert. Er hatte in seinem kleinen baltischen Heimatland gelebt, die überschaubare und verschlafene Wache geleitet - und plötzlich das! Holterdiepolter! Sofortige Abberufung nach Moskau! Die schnelle Einarbeitung eines Nachfolgers, eines typischen »heißen Esten«, eines Magiers, der mal gerade den vierten Grad innehatte ... Den muss ich auch noch in Tallinn anrufen. Und was hatte in Moskau auf ihn gewartet? Gewiss, nach Edgars Ankunft lief eine hektische zweiwöchige Operation an, etwas später musste er mit einer kühnen Finte den Lichten eine Hexe abjagen, die ohne Lizenz arbeitete. Das war's. Dann, nach über drei Monaten voller Routine, kam Mitte November die überraschende Ernennung zum Stellvertreter des Chefs der Tagwache während Sebulons Abwesenheit, das Auftauchen des Spiegels und das Tribunal in der Lomonossow-Universität.
Wenn er sich alles durch den Kopf gehen ließ, schien es ihm keinesfalls ausgeschlossen, dass die alten Magier der Tagwache versuchen könnten, den Balten, der bei seinem Gastspiel in Moskau etwas zu schnell Karriere machte, mal zu zeigen, wo sein Platz war - das Wort intrigieren war hier wohl doch nicht angebracht. Sebulon verließ Moskau nur selten. Sobald er jedoch in der Stadt weilte, war Edgar ein Fahnder, mehr nicht. Ein starker Fahnder, gewiss, wenn man so wollte, die Elite. Aber mit den gleichen Rechten wie alle.
Als das Glas leer war, beschloss Edgar: Er würde sich nicht länger
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