246 - Am Ende aller Zeit
weißhaarigen Arzt. Er gab ihr Halt und Sicherheit. Im Lager der Rev’rends wurde sie dagegen nicht mehr gerne gesehen.
»Nimm dir zwei Warlynnes mit.«
Gordie nickte. Einige Warlynnes hatten den Auftrag, die Menschen nach draußen zu begleiten und sie nicht aus den Augen zu lassen.
Vorsichtig öffnete die blonde Frau den Deckel des Käfigs. Sie streckte ihre behandschuhten Hände aus und griff nach dem geflügelten Tier. Es wehrte sich nicht. Problemlos ließ es sich hochheben. Anscheinend war es von den Kamikaze-Flügen gegen das Glas geschwächt. Fasziniert hob Gordie die Libellenechse an und blickte in die winzigen roten Augen. Ein Schauer überkam sie.
»Es… es sieht mich so…« Ihr fehlte das richtige Wort. Wie genau sah dieses Tier sie an? Sonderbar? Vernünftig? Intelligent? Ja, das war es. Intelligent. Wissend. Berechnend.
»Gordie, bitte!« Laurenzos Stimme klang genervt. »Lass mich endlich weiterarbeiten, okee?«
»Okee«, murmelte Gordie leise. In diesem Moment entwand sich die Libellenechse ihrem Griff und sprang von ihrer Hand. Sie stürzte sich wild flatternd auf eine Probe, die neben Laurenzo auf dem Tisch lag.
»Gordie!«, schimpfte der Arzt.
Gordie eilte herbei und griff beherzt zu. Es gelang ihr, die Libellenechse nach wenigen Versuchen zu packen. »Ich hab das Miststück!«, meinte sie triumphierend. »Tschuldige.«
»Bring das Tier bitte nach draußen.« Laurenzo sah verärgert zu ihr hin. »Bevor es mir auch noch andere Proben verdirbt.«
Gordie nickte gehorsam und machte sich auf den Weg zum Ausgang der Anlage.
***
Einige Minuten zuvor
Der Chasta fühlte die Nähe zum Älteren. Er war noch immer mit ihm verbunden und konnte über die Verbindung kommunizieren. Sie warteten inzwischen seit langer Zeit. Fast so lange, wie er schon lebte.
Der Neugeborene war geduldig. Er musste sich dem Älteren unterordnen und abwarten. Immer mehr seiner Art trafen ein. Die Laufwesen hatten seltsame Dinge getan, seitdem sie sie beobachteten. Zweimal schon hatten die Chasta ihren Aufenthaltsort gewechselt und die Laufwesen auf diese Art durch die Augen ihrer Trägerorganismen betrachten können. Das lenkte den Chasta von der Wartezeit ab. Inzwischen spürte er, dass eine ausreichende Zahl Chasta in diesem Fremdwerk der Feinde, das weder Pflanze noch normaler Stein war, eingetroffen war. Es wurde Zeit zu handeln. Der Einsatz rückte näher. Wann ist es so weit?
Es dauert noch. Der Haupttrupp wartet im Leib des Shawiba auf den Einsatz. Er wird uns mit sich nehmen.
Der Chasta war aufgeregt. Er wusste, dass fünfzig seiner Art genug waren, um eine Basisintelligenz zu erreichen. Gemeinsam würden sie einen Plan schmieden können und die Ruhestörer überwinden. Wesen, die ES verschwinden ließen, waren gefährlich.
Noch immer war ES nicht wieder aufgetaucht. Das Ding, das früher in diesem Sperrgebiet gelebt hatte und alles in sich aufnahm, was sich bewegte, war spurlos verschwunden.
Wie haben die Fremden ES nur verschwinden lassen? Was haben sie damit getan?
Der Ältere antwortete nicht. Er musste auch nicht antworten. Es war nicht wichtig. Der junge Chasta wusste das, aber er war neugierig.
Der Alte sandte ihm rügende Bilder. Die Neugierde des Jungen war dem Ziel nicht zuträglich.
Wichtig war jetzt nur der Auftrag. Das Gelingen.
Der Neugeborene wünschte sich wieder einen Träger mit Augen. Bald würde es so weit sein. Sehnsüchtig wartete er auf den Shawiba. Es konnte nicht mehr lange dauern, dann würde die zweite Phase ihres Plans beginnen.
***
»AAHHH!« Der hohe, entsetzte Schrei einer Frau zerriss die Stille.
Laurenzo fuhr alarmiert auf und sprang von seinem Stuhl. Er rannte den Gang hinunter und kam gemeinsam mit zwei Männern der WCA und drei Rev’rend-Anhängern bei der schreienden Frau an. »Gordie!«
Gordie schrie hell und verzweifelt. Die Libellenechse zuckte an ihrem Gesicht. Das Tier hatte sich dort mit seinen spitzen Nagerzähnen verbissen. Blut lief über Gordies Wange. Sie schrie und schlug um sich, während Laurenzo sie geistesgegenwärtig packte.
»Gordie! Halt ruhig!« Er brachte die schreiende Frau zu Boden. Die anderen Männer halfen ihm.
In dem Moment löste sich die Libellenechse von Gordie und wollte davon flattern. Doch Gordies panische, unkontrollierte Schläge erwischten sie. Das Tier fiel herab, biss erneut zu und erwischte die blonde Frau seitlich am Hals.
»O mein Gott!«, stöhnte einer der Soldaten.
Laurenzo griff zu und packte die Libellenechse.
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