283 - Der Zorn der Königin
sein, konnte sie ihn nicht einfach laufen lassen. Dafür war er zu wertvoll.
»Wir nehmen ihn mit«, zischte sie Meikel zu, der inzwischen zum Kahn gewatet war und den Kleinen am Kragen hielt.
Bevor der noch etwas erwidern konnte, klang plötzlich in seinem Rücken lautes Geschrei auf. In der Annahme, sie wären entdeckt, stieß der Fischer wütende Flüche aus.
Auch Victoria und Enna blickten erschrocken zu den Waschfrauen. Doch was sie dort sahen, ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren.
Zwei echsenartige Riesenkröten jagten Frauen und Kinder über den Strand. Sie trieben sie in Wassernähe. Dort lauerten noch mehr der Untiere in den braunen Fluten. Blitzschnell lösten sich blutrote Zungen aus ihren warzigen Schädeln. Wie Wurfseile schnellten sie aus dem Wasser, umschlangen die Körper der Jammernden und rissen sie in die Themse. Wasserfontänen spritzten in die Höhe. Erstickte Schreie gellten aus den Fluten. Glänzende, knorrige Leiber tauchten auf und wieder unter. Gurgeln und glucksende Laute ertönten. Dann wurde es still. Totenstill.
Entsetzten machte sich bei den Gefährten breit. »Kommt schon! Wir müssen hier weg.« Meikel wartete, bis die Frauen sicher an Bord waren, dann schob er den Kahn ins tiefere Wasser und kletterte neben den Jungen ins Boot.
Paacivals Neffe klammerte sich an den Rand. Tränen rollten ihm über die bleichen Wangen. »Kwöötschis. Die Kwöötschis haben sie verschlungen«, stammelte er wieder und wieder.
Während Meikel wie ein Wahnsinniger zum anderen Ufer ruderte, beobachteten Enna und Victoria gebannt die Stelle, an der die Lordsfrauen und -kinder verschwunden waren. Nichts regte sich dort mehr.
Sie hatten die Flussmitte schon erreicht, als plötzlich ein Ruck durch den Kahn ging. Im nächsten Moment tauchte der mächtige Schädel einer Kwöötschi über den Bootsrand auf. Ihre kleinen gelben Augen funkelten. Ein Zischeln entwich dem geöffneten Maul, aus dem dolchlange Reißzähne ragten.
Erschrocken griffen die Erwachsenen nach ihren Waffen. Der Junge aber sprang auf und schrie wie am Spieß. Ganz grau vor Angst stolperte er über Lady Victorias Füße zum Heck des kleinen Schiffes. Noch bevor die Ex-Queen nach ihm greifen konnte, schnellte die Krötenzunge ins Boot und umschlang die Beine des Kindes. Einen Atemzug später war es im Wasser.
Victoria sah, wie der Junge um sich schlug. Wie sich das Krötenlasso zuzog und die schrecklichen Zähne den kleinen Körper rissen.
Gleichzeitig legte Meikel seine Armbrust an. Bevor die Kwöötschi abtauchen konnte, traf sie der eiserne Bolzen zwischen den Augen. Ein unwirkliches Kreischen und Zischen ertönte. Dann glitt die Zunge wie ein ausgeleiertes Gummiband zur Seite und das Untier verschwand in den braunen Fluten.
Ohne zu Zögern griff die ehemalige Queen nach dem leblosen Körper von Paacivals Neffen und zog ihn gemeinsam mit Enna an Bord. Er lebte noch. Victoria pumpte ihm das Wasser aus den Lungen. Die Fischersfrau riss sich Stoffstreifen aus ihrem Kleid und umwickelte die blutenden Wunden des Kleinen.
Meikel hatte die Ruder schon wieder in der Hand. Doch nicht einen Schlag konnte er tun. Wie ein Peitschenhieb traf ihn eine Krötenzunge am Hals und riss ihn aus dem Boot. Weder seine Frau noch Victoria konnten noch irgendetwas für ihn tun.
Angespannt starrten sie auf die trübe Wasseroberfläche. Doch der Fischer tauchte nicht mehr auf. Und auch keine der Kwöötschis ließ sich noch sehen.
***
Schottland, Canduly Castle
Der erste Novembersturm brauste über die Waldhügel der Highlands. Durch jede Ritze im alten Mauerwerk von Rulfans Festung heulte der Wind. Regen prasselte gegen die Scheiben. Doch die Bewohner und Gäste der Burg beachteten das Unwetter kaum. Sie saßen vor dem flackernden Kaminfeuer. Tranken, aßen und redeten über das, was sich Commander Matthew Drax und Jed Stewart, der zu Besuch auf Canduly Castle weilte, in den letzten Stunden gegenseitig berichtet hatten.
Nur Xij Hamlet beteiligte sich nicht an dem Gespräch. Die aschblonde junge Frau kauerte mit hochgezogenen Beinen in dem größten Sessel des Kaminzimmers. Das Grün ihrer mandelförmigen Augen war unter den halbgeschlossenen Lidern kaum noch zu sehen. Blass sah sie aus. Kleine Schweißperlen bedeckten die Stirn ihres kantigen Gesichts bei dem Versuch, den Worten der anderen zu folgen.
Vergeblich! Es wollte ihr nicht gelingen, all das einzuordnen, was sie hörte und sah. In ihrem Kopf herrschte das Chaos. Bilder, Namen und
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