34° Ost
immer verfolgten ihn die grauenhaften Bilder gefallener Soldaten rund um zerstörte Fahrzeuge. Hätte er daheim in Washington über einen solchen Anschlag gelesen, dann hätte er theoretische Betrachtungen darüber angestellt, dass Gewalt wieder Gewalt erzeugt. Aber jetzt hatte er keine Lust zu Theorien. Es gab nur die Erinnerung an brutales, blindes Töten, die seinen lebenslangen Glauben, mit Vernunft das Böse besiegen zu können, ins Wanken brachte.
Rund 10.000 Kilometer von Sinai entfernt, in der von Ärzten und Schwestern wimmelnden Intensivstation des Palm Springs Hospitals, sank die hellgrüne Linie, die in zusehends flacheren, langsameren Wellen über den Schirm eines EKG-Gerätes verlaufen war, noch weiter ab und zog sich endlich nur noch als horizontaler regungsloser Strich quer über die Kathodenröhre. Und in diesem Augenblick, als alle seine Überzeugungen in Frage gestellt waren, auf einem Lastwagen zwischen Mördern eingekeilt, die sich als Soldaten einer Befreiungsarmee bezeichneten, inmitten der verzweifelten Überlebenden seiner Begleitung, wurde Talcott Quincy Bailey, die Taube, ohne es zu wissen, 39. Präsident der USA.
Nackt bis auf die Socken saß Fowler Litton Beal auf der Kante des runden Betts, das er für Terri MacLean angeschafft hatte. Aus bodenlangen Spiegeln an den rosa und malvenfarbenen Wänden schaute ihm sein teigiges, zerfurchtes Gesicht über schwammigem Körper entgegen. Schweiß verklebte sein halblanges graues Haar. Als er auf seinen vorgewölbten Bauch niederblickte, sah er unter der fast weibischen Brust das heftige Pochen seines überanstrengten Herzens. Diese Frau würde ihn noch umbringen, dachte er mit einem Anflug von Trübsinn. Ja, eines Tages würde er in ihrem Bett sterben, dort würde man ihn finden, mitten zwischen Rüschen, Puderquasten und Spiegeln, einen weichen Berg verbrauchten alten Fleisches, geopfert auf dem Altar der Triebhaftigkeit einer Vierundzwanzigjährigen.
Er hörte, wie sie im Bad herumplanschte, bereit, den Rest des trüben Tages damit zu verbringen, in den Läden von Rockville rosa Negligés und Schallplatten mit Country- und Western-Musik einzukaufen. Sie würde sich auf den Weg machen, sobald er sich endlich aufraffte, sich anzuziehen und in sein Büro zu fahren, wo er sich ausruhen konnte. Aus dem Badezimmer tönte jene laute Musik, die Terri so begeisterte und der er nichts abgewinnen konnte.
Er fuhr sich mit der Hand über den Mund und spürte, wie sich das schlaffe Gewebe vor den Kieferknochen verschob. Fowler Beal versuchte zu ergründen, warum er, ein Mann, der nach Meinung jedes vernünftigen Menschen durchaus erfolgreich war, plötzlich Depressionen hatte. Miß MacLeans Unersättlichkeit konnte nicht der Grund dafür sein: er hatte immer Beziehungen zu ganz ähnlichen Typen gehabt, und gewöhnlich hatte er diese Tète-à-têtes sehr genossen. Er war ein sinnlicher Mann, und dabei blieb es auch in diesen späteren Jahren, in denen sich die meisten seiner Altersgenossen aus Rücksicht auf Kreislauf und Prostatabeschwerden bereits möglichste Schonung auferlegten. Doch seit kurzem leistete er im Bett nicht mehr so viel wie ehedem. Er fragte sich, ob etwa die Erkenntnis seiner eigenen geistigen und politischen Unzulänglichkeit die Schuld daran trug.
Fowler Litton Beal war vor rund sechsundzwanzig Jahren als junger Kongressabgeordneter aus Idaho nach Washington gekommen. Damals hatte er sich für energisch, strebsam und zielbewusst gehalten. Das war schon so lange her, dass er sich kaum mehr vorstellen konnte, er sei derselbe Mensch, den seine Wähler nun schon – seit wann eigentlich? – mit spöttischer Nachsicht ›Old Fowler‹ nannten. Der junge Fowler Beal war voller Ambitionen, als er in Washington eintraf. Einige Amtsperioden im Repräsentantenhaus, dann die Aufnahme in den Senat und schließlich – wer konnte es voraussagen? – vielleicht der Einzug ins Weiße Haus. Bei der Ankunft in Washington gewann er den Eindruck, dass man als Neuling am besten vorwärtskäme, wenn man sich den entscheidenden Machtgruppen der großen Partei, die ihn in den Kongress entsandt hatte, tunlichst anpasste und gefällig zeigte. An dieser Einstellung war nichts zu tadeln. Hunderte gewählte Mandatare waren im Verlauf der amerikanischen Geschichte auf diesem Weg zu Rang und Ansehen aufgestiegen. Doch bei Beal wurde aus der entgegenkommenden Haltung allmählich Willfährigkeit und aus der Treue Unterwürfigkeit. »Old Fowler schlägt nie
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