54 - Deutsche Helden, Deutsche Herzen 06 - Die Kosaken
hatten es klingeln hören und waren neugierig, zu erfahren, wer da kommen werde. Einen Bekannten erwarteten sie nicht, und ein Fremder konnte zu solcher Stunde doch nicht erst kommen.
Da kam das Mädchen herein und übergab Normann die Karte. Er las sie und lachte laut auf:
„Wer ist's?“ fragte Tschita neugierig.
„Ein Fremder. Wie sieht der Mann aus?“
„Sehr nobel“, antwortete das Mädchen.
„Hm! Diese Karte ist nicht gedruckt, sondern mit Tinte beschrieben. Ein sehr nobler Herr ist er also nicht.“
„Er sagte, von dieser Karten kosten hundert Stück eine Mark fünfzig“, meinte das Mädchen.
Alle lachten.
„Zu wem will er denn? Zu mir?“
„Nein, sondern zur ganzen Bande.“
„Was! Zur ganzen Bande? Das ist originell!“
Das Gelächter wiederholte sich.
„Wer ist er denn?“ fragte Hermann.
„Da, auf der Karte steht geschrieben: Sam Barth, Knopfmachergeselle und Präriejäger aus Herlasgrün in Sachsen.“
„Präriejäger und Knopfmachergeselle?“ rief Hermann in freudigstem Erstaunen. „Ah, das ist ja unser alter Freund, von dem ich euch schon erzählt habe, derselbe, mit dem ich und unser englischer Vetter Lord Eaglenest am Gila Bend in Amerika zusammentrafen, der Freund Steinbachs, der mit uns nach dem Todestal ritt! Er ist herzlich willkommen!“
„Ja, laß ihn herein!“ gebot Normann.
Im nächsten Augenblick erschien Sam, aufs wärmste begrüßt von Hermann und den übrigen. Er erwiderte freundlich die ihm dargebrachten Huldigungen, dann sagte er mit einer gewissen Feierlichkeit:
„Ich bringe Grüße, meine Herrschaften, von Seiner Herrlichkeit, dem Lord Eaglenest.“
Die vier machten ganz erstaunte Gesichter.
„Und dann sind mir auch noch andere Grüße aufgetragen worden, nämlich von Herrn Steinbach.“
„Ah, von dem? Wo haben Sie ihn denn getroffen?“
„Bereits hinter Irkutsk.“
„Irkutsk? Das liegt ja in Sibirien! Waren Sie denn dort?“
„Natürlich! Wir hatten doch die Absicht, Ihren Bruder, Herrn Georg von Adlerhorst, zu befreien.“
„Ach! Jetzt wird es in mir klar. Sie Tausendsassa haben also an diesem Werk auch mitgeholfen?“
„Ja, und es ist uns gelungen.“
„Ich will meine Wißbegierde noch zügeln. Sie werden uns alles erzählen müssen. Sagen Sie uns nur einstweilen, ob es wahr ist, daß er eine Braut hat.“
„Ja, er hat sie. Sie ist meine Nichte.“
„Ihre – Nichte –“
„Natürlich. Oder trauen Sie mir etwa keine Nichte zu? Diese Nichte ist die Adoptivtochter eines regierenden Fürsten.“
„Eines Fürsten? Und wer ist denn dieser Fürst?“
„Fürst Bula der Tungusen. Übrigens wollen wir darüber später reden. Ich habe noch mehrere Grüße auszurichten, und zwar von einem Fräulein Magda von Adlerhorst, ferner von einem Herrn Martin von Adlerhorst und endlich auch noch von einer Frau Anna von Adlerhorst.“
Kein Mensch antwortete Sam. Sie waren alle stumm vor Erstaunen. Da sagte er:
„Um es kurz zu machen: Es ist besser, ich lasse das Grüßen sein und bringe die Leute gleich selbst.“
Damit öffnete er die Nebentür, und nun traten die Genannten herein, an ihrer Spitze der lange, dürre Lord Eaglenest.
Nun gab es ein Entzücken, das gar nicht zu beschreiben ist. Es wurde vor Freude gelacht und geweint, und es verging wohl über eine Stunde, bevor sich diese guten und so lange schwer geprüften Leute soweit gesammelt hatten, um in leidlicher Ruhe fragen und antworten zu können.
Die in der Heimat weilenden Glieder der Familie hatten mit Ausnahme Hermanns bisher noch gar nicht gewußt, daß ihre Mutter nebst Martin und Magda sich in Amerika befunden hatten. Der Lord hatte diese letzteren, während Hermann nach Deutschland zu seinem Schwager Normann reiste, bei sich in England untergebracht, damit sie sich nach und nach von ihren schweren Leiden erholen sollten.
Jetzt war das Entzücken dafür ein desto größeres. Das war ein Küssen und Umarmen! Die wiedergefundene Mutter ging aus einem Arm in den anderen. Das war ein Schluchzen und Jauchzen! Der lange Lord strampelte vor Freude nur immer mit den Beinen. Selbst Zykyma mußte sich seine Umarmung gefallen lassen.
Nur einer verhielt sich ganz still dabei, nämlich Sam, der Dicke. Er hatte sich in eine Ecke zurückgezogen und machte den stillen Beobachter.
Endlich, nach langer, langer Zeit, setzte man sich wieder nieder, und nun sollte das Erzählen beginnen. Jeder wollte zuerst wissen, wie es dem anderen ergangen sei, und so kam es, daß keiner Zeit und
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