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60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

Titel: 60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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aufzufinden vermocht hatte, so befand sich das Publikum im vollsten Besitz aller Tatsachen, welche für oder gegen ihn sprachen. Mit dem lebhaftesten Bedauern sagte man sich, daß der Mensch Teil für ihn nehmen müsse, der Jurist ihn aber verurteilen werde.
    Da der Andrang zur Verhandlung voraussichtlich ein übermäßiger sein würde, so waren Karten ausgegeben worden. Nur bevorzugte Persönlichkeiten hatten Zutritt erlangt. Aber draußen vor dem Gerichtspalast hatte sich bereits am frühen Morgen eine ansehnliche Menschenmenge versammelt, um die Zeugen ankommen und aussteigen zu sehen.
    Als dieselben ihre Plätze eingenommen hatten, wurde der Angeklagte in den Saal geführt. Die monatelange Haft war nicht ohne Wirkung auf sein Äußeres geblieben; aber der Eindruck, welchen er machte, war ein durchaus guter.
    Weder furchtsam und frech, sondern offen und mutig, mit dem Ausdruck eines Mannes, welcher sich zwar in einer gravierenden Lage, aber schuldlos in derselben weiß, blickte er sich im Saal um. Sein Auge blieb nur an zweien haften, auf Baronesse Alma und auf seinem Vater, welche beide auch als Zeugen anwesend waren.
    Die erstere hielt die Augen niedergeschlagen; der letztere aber sah seinen Sohn an und blickte dann wie triumphierend zu den Richtern hinüber, als wollte er ihnen sagen:
    „Seht ihn an, ihr Herren! Hat er das Aussehen eines Mörders, eines Menschen, der sich schuldig fühlt! Hört, ihr werdet ihn wohl freisprechen müssen!“
    Er konnte nicht hinüber zur Anklagebank, aber er winkte Gustav einen freundlichen Gruß hinüber und machte dabei ein Gesicht, dem man es ansah, daß es nichts anderes bedeuten solle als:
    „Kopf hoch, mein Junge! Sie werden dir nichts anhaben können!“
    Es wurde begonnen. Der Vorsitzende machte das Auditorium mit dem vorliegenden Fall bekannt; der Angeklagte wurde vernommen und dann die einzelnen Zeugen. Gustav antwortete ruhig und ernst; es war ihm keine Aufregung, weder diejenige der Angst noch die des Zorns, anzumerken. Er gab der Wahrheit die Ehre, und mehr konnte er nicht.
    Unter den Zeugen wurde besonders Baronesse Alma scharf beobachtet. Es war ja von gewisser Seite die Behauptung aufgestellt worden, daß Brandt ihr heimlicher Geliebter gewesen sei und nur deshalb ihren Vater und Verlobten beseitigt habe, um desto ungehinderter in ihren Besitz zu gelangen. Sie wurde sogar über diesen Umstand vernommen, blieb aber bei der entschiedenen Behauptung, daß zwar ein brüderlich zärtliches, nicht aber ein sogenanntes Liebesverhältnis zwischen ihnen obgewaltet habe. Zuletzt noch befragt, ob sie den Angeklagten wirklich für des Mordes an dem Hauptmann schuldig halte, erklärte sie, indem ihre Stimme zitterte und ihr schönes Angesicht die Bleiche des Todes angenommen hatte:
    „Ich weiß, welches Gewicht man auf meine Antwort legen wird. Mein Herz gebietet mir, Milde walten zu lassen; aber ich hörte den Wortwechsel zwischen ihm und dem Hauptmann; ich sah den Toten liegen und die Flinte in der Hand des Angeklagten rauchen; ich bin überzeugt, daß er der Täter ist. Ich darf nicht meinem Herzen, sondern ich muß meiner Pflicht und meinem Gewissen folgen. Gott wird mir verzeihen und gnädig sein, wenn ich mich irre!“
    Nach diesen Worten brach sie kraftlos zusammen.
    Eine tiefe, unheimliche Stille war eingetreten. Aller Augen hingen an Brandt, um zu sehen, welchen Eindruck diese Worte auf ihn gemacht hatten. Aber als dann der Vorsitzende fragte: „Was hat der Angeklagte dazu zu sagen?“ da erhob sich Gustav und antwortete in festem aber mildem Ton:
    „Gott wird ihr verzeihen, denn sie spricht aus Überzeugung. Sie kann nicht wissen, was in der einen Minute, welche zwischen ihrem Gehen und ihrer erschrockenen Wiederkehr lag, geschehen ist. Ich zürne ihr nicht; ja, ich würde sie weniger achten können als jetzt, wenn sie anders gesprochen hätte.“
    Der Eindruck dieser Antwort war ein günstiger. Es ging ein Flüstern durch den Zuhörerraum, aus dem man die Worte entnahm:
    „So kann nur ein Unschuldiger sprechen!“
    Die Aussagen des Barons und der Zofe waren natürlich im höchsten Grad beschwerend. Sie warfen eine Last auf den Gefangenen, welche derselbe nicht abzuschütteln vermochte. So, wenn auch weniger, war es auch mit den Deponierungen der meisten anderen Zeugen.
    Jetzt erhob sich der Staatsanwalt. Seine Rede war scharf und schneidig, wie das Schwert, dem der Angeklagte verfallen sollte. Als er geendet hatte, sagte sich das Auditorium, daß Brandt

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