999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
benutzen. Leider hatte er aus seinem Ziehsohn nicht herausbekommen können, wer sie waren.
Seitdem Giovanni ihm alles gebeichtet hatte, waren zwei Tage vergangen. Noch in derselben Nacht hatte er ihn in die Klinik eines alten Freundes, nach Fiesole in der Nähe von Florenz gebracht. Auch dieser Freund war Mitglied des engeren Kreises der Georgofili, und Giacomo konnte ihm vertrauen. Giovanni hatte sofort Beruhigungsmittel bekommen. Er stand mittlerweile so stark unter Drogen, dass er weder sich selbst noch anderen Schaden zufügen konnte. Wahrscheinlich hatte Giovanni sich deshalb so unglaublich betrunken, weil es die einzige Möglichkeit gewesen war, Giacomo die ganze Wahrheit zu erzählen und damit aber auch zu zeigen, dass ihm etwas an seinem Ziehvater lag. Da Giacomo sein ganzes Leben dem Schutz des Buches gewidmet hatte, hatte sich dabei vielleicht sein Herz verschlossen, und er fragte sich schon, wie sehr er Giovanni seine Zuneigung wirklich hatte zeigen können.
Trotzdem, seitdem er sich erinnern konnte, hatten ihn seine Eltern mit unendlicher Liebe großgezogen. Schon von Anfang an hatten sie immer über das Buch gesprochen und ihn, wie in einem Märchen, an dessen geheimnisvolle Präsenz gewöhnt. Aber diese Liebe hatte er weder geben noch nehmen können. Die wenigen Frauen, die ihn auf seinem Lebensweg begleitet hatten, waren von ihm immer auf Distanz gehalten worden. Giacomo traute ihnen nicht, und deshalb hatte er ihnen nie die Liebe geben können – wenigstens nicht dieselbe Liebe, die er in den Augen seiner Eltern sah, wenn sie einander ansahen. Diese Liebe währte ihr ganzes Leben lang und bis zum Tod; er war kaum zwanzig Jahre alt gewesen, als er sie verlor: Die beiden Liebenden waren eng umschlungen in ihrem Bett gestorben. Der Arzt hatte gesagt, dass es ein sehr seltener, aber deshalb nicht unmöglicher Tod gewesen sei: Weil seine Eltern die Trennung von dem liebsten Menschen nicht ertragen hätten, darum waren sie einfach gemeinsam gegangen, friedlich und einer nach dem anderen. Am Anfang war Giacomo sehr verstört gewesen; selbst die Freunde seines Vaters aus dem Omega-Kreis hatten ihn kaum davor bewahren können, nicht unter der Last der alleinigen Verantwortung zusammenzubrechen. Dann hatte der Krieg dafür gesorgt, dass er erwachsen wurde.
Ja, auch er hatte dazu beigetragen, dass Giovanni Verrat geübt hatte, und sicherlich war auch diese Frau, Elena, mit im Spiel gewesen. Allerdings wusste er noch immer nicht, wer so akribisch seinen Tod geplant hatte, um an das Buch zu gelangen. Ein Verräter innerhalb der Gruppe? Die faschistische Partei? Jemand, von dessen Existenz er nichts wusste?
Vor fünfhundert Jahren hatte sich Pico hauptsächlich gegen die Kirche wehren müssen, aber Giacomo glaubte nicht, dass ihn die gleichen Mächte von damals bedrohten. Eine Spur könnten diese Vorstadtschläger sein, die ihn observiert hatten. Wahrscheinlicher war jedoch, dass sie ihn wegen der Treffen der Georgofili-Akademie oder irgendwelcher Äußerungen über das Regime, die ihm öfters über die Lippen kamen, beobachtet hatten. Seit den Lateranverträgen, welche die Kirche und das faschistische Regime eng miteinander verbanden – eine politische Meisterleistung, musste Giacomo unwillkürlich denken –, waren natürlich beide Parteien daran interessiert, alles unter einen Teppich zu kehren. Vielleicht kam die Bedrohung von jenseits des Ozeans, von einem Sammler?
Er zweifelte daran, dass Giovanni sich mit solchen Personen oder deren Auftraggebern, und dann auch noch aus Amerika, in Verbindung gesetzt hatte. Das Pico-Manuskript war sicherlich sehr wertvoll – aber nicht für einen Sammler. Nein, es war vielmehr der Inhalt des Buches, der interessant war. Giovanni war einem obskuren, teuflischen Netz in die Falle gegangen, und irgendjemand wollte das Manuskript wegen seiner Bedeutung und seinem Inhalt besitzen. Demjenigen ging es mit Sicherheit nicht um die historische Bedeutung, die ein unveröffentlichtes Werk eines Philosophen aus dem fünfzehnten Jahrhundert haben konnte. Giacomo würde es bestimmt herausfinden, aber zunächst musste er das Buch in Sicherheit bringen und die Sicherheitsvorkehrungen ändern.
Die ehrwürdige Mayer Bank würde bald öffnen – dort hätte Giovanni das Sicherheitsfach im Falle von Giacomos Tod öffnen lassen können, um an das Buch zu kommen. Natürlich musste es sich um einen natürlichen Tod handeln – andernfalls würde das Sicherheitsfach für weitere 20 Jahre
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