Abgehakt
sprechen wir morgen. Für heute möchte ich dir vorschlagen, mit mir nach Hause zu kommen. Ich denke, es wäre gut, wenn du in einer anderen Umgebung und nicht allein wärst.«
»In Ordnung!«, sagte sie ohne Zögern. Sie empfand große Erleichterung darüber, dass ihr jemand sagte, was sie jetzt tun sollte. Sie war müde und wollte nicht mehr denken, nur ausruhen und vergessen.
Gemeinsam packten sie ein paar Sachen zusammen und verließen die Wohnung. Auf der Fahrt blickte Carsten immer wieder in den Rückspiegel, um mögliche Verfolger auszumachen. Doch er war sich ziemlich sicher, dass niemand ihnen folgte. Als sie im Ingwerweg ankamen, war Anne vor Erschöpfung eingeschlafen. Er trug sie ins Haus, dabei wurde sie wieder wach.
Sie blickte sich irritiert in Carstens Wohnzimmer um.
»Meine bescheidene Hütte«, erklärte er. »Sieh dich nur um, sie ist nicht besonders groß. Verlaufen kannst du dich nicht.«
Sie erkannte, dass es sich um ein Holzhaus handelte, das aus Blockbohlen errichtet war. Die Räume strahlten Wärme und Geborgenheit aus. Es gab drei Zimmer, eine Küche und ein Bad. Alles nicht sehr groß, aber gemütlich. Carsten zündete ein Feuer im Kamin an und holte Bettzeug.
»Du schläfst in meinem Bett und ich auf der Couch.«
»Nein. Du hast bei mir auf der Couch geschlafen. Jetzt bin ich dran.«
»Aber –«
Sie legte ihm einen Finger auf den Mund, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Hast du Wein da?«, fragte sie, um das Thema zu beenden, und nahm auf dem Sofa Platz.
Er lächelte, öffnete schweigend eine Flasche Rotwein und schenkte ein. Sie genoss die Wärme, die sich vom Kamin her ausbreitete, und starrte schweigend in die Flammen.
»Möchtest du über den Überfall sprechen?«, fragte er so sanft wie möglich.
»Eigentlich nicht, aber ich werde es tun.«
»Du musst nicht, wenn du nicht willst.«
»Ich weiß, aber morgen oder an einem anderen Tag wird es auch nicht besser. Wenn ich es jetzt loswerde, kann ich es vielleicht schneller verdrängen.« Sie wollte eigentlich »vergessen« sagen, doch sie wusste, dass sie das niemals würde vergessen können.
Bereits auf der Polizeistation hatte sie Angaben machen müssen, aber sie hatte sich so kurz wie möglich gefasst. Und sie war dankbar gewesen, dass man sie nicht weiter bedrängt hatte. Aber jetzt, hier an Carstens Seite, konnte sie sich dem Erlebten stellen. Sie begann zu erzählen. Sie war an dem Punkt angelangt, als die Männer sie mit dem Gesicht zur Wand gedreht hatten.
»Ich spürte, wie die Klinge an meinem Hinterkopf hinaufgeschoben wurde. Da dachte ich, sie bringen mich um.« Dass ihr seit einigen Minuten Tränen über die Wangen liefen, schien sie nicht zu merken. »Meine Haare hielt der Dünne zusammengerafft und begann, sie direkt am Kopf abzuschneiden, während der andere mein Gesicht brutal gegen die Wand drückte. Dann wurde ich wieder herumgedreht. Der Dünne sagte: ›Siehst ein bisschen verändert aus. Aber ich muss sagen, wenigstens die Socke im Mund steht dir gut.‹ Er lachte fies, während er meine Haare in eine Plastiktüte steckte und diese dem anderen reichte. Dann sagte er noch, dass nächstes Mal andere Dinge abgeschnitten würden, wenn ich weiterhin ein böses Mädchen wäre. Das wäre dann auch gleichzeitig das letzte Mal, wenn ich verstehen würde, was er beziehungsweise die Person, die auf mich aufpasst, meint. Dann steckte er das Messer ein und nahm meine Handtasche. Er kramte mein Handy heraus und meinte: ›Das brauchst du nicht, denn die Polizei wirst du doch nicht rufen. Das wäre ja gleichzeitig die Bestellung des nächsten Treffens.‹ Er warf das Handy gegen die Mauer. Es blieben nur unzählige Einzelteile übrig. Die Tasche ließ er achtlos fallen, und dann drückte er sich noch einmal ganz eng an mich und leckte mir über den Hals.«
Der Ekel, den sie in der Unterführung empfunden hatte, war jetzt deutlich auf ihrem Gesicht zu sehen.
»Ich wollte mich wehren, ich wollte schreien, aber ich hab’ versucht, das zu unterdrücken, in der Hoffnung, dass er von mir ablässt. Das tat er dann auch, aber …« Sie sprach nicht weiter, versuchte das Schluchzen hinunterzuschlucken. Carsten hatte die ganze Zeit ihre Hand gehalten. Jetzt nahm er sie zärtlich in die Arme und Anne ließ ihren Emotionen freien Lauf. Laut weinte sie an seiner Schulter, und er wünschte, er könnte ihr die Last der Erinnerung abnehmen. Langsam wurde sie ruhiger und löste sich aus seinen Armen. Die Tränen wischte sie
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