Abrechnung: Ein Fall für Kostas Charitos (German Edition)
versteckte, wie sie sich verliebten und schließlich heirateten. Für meine Mutter war die Beziehung zu meinem Vater so etwas wie die Liebe in den Zeiten der Cholera. Doch als ich mein Studium an der Uni anfing, erzählten mir meine Kommilitonen ganz andere Dinge über meinen Vater.«
»Nämlich?«, ermuntere ich sie.
»Dass er überall seine Finger im Spiel hatte. Dass er eng mit den gewerkschaftlich organisierten Studenten verbandelt war, die bei ihm Seminarscheine bekamen, ohne auch nur eine Vorlesung besucht zu haben, weil er ihnen die Fragen vorab zusteckte.«
»Und das haben Sie geglaubt?«, fragt Koula dazwischen.
»Ja, denn mein Vater hatte den Ehrgeiz, Rektor zu werden. Und dafür brauchte er die Stimmen der Gewerkschafter. Die älteren Kommilitonen, die schon ziemlich gut Bescheid wussten, wie die Wahl von Universitätsrektoren läuft, haben mir gesagt, dass in den universitären Einrichtungen nichts ohne die Zustimmung meines Vaters lief.«
Sie holt tief Luft, um die innere Spannung loszuwerden, und wendet sich wieder an mich.
»Vielleicht halten Sie die Universität für den Tempel der Weisheit, Herr Kommissar. Das stimmt zwar, aber sie ist auch ein Tempel der Heuchelei. Mit jeder Stufe, die mein Vater höherstieg, tat er einen Schritt vom politischen Widerstand hin zur Heuchelei. Ich wollte mit alldem nichts zu tun haben. Hier und am Nachhilfeinstitut arbeite ich ohne Entgelt.« Sie verstummt, und ihr Blick sagt mir, dass ein gewisser Zweifel an ihr nagt. »Wissen Sie, was ich mich immer wieder frage, Herr Kommissar? Ob ich all das tue, weil ich es als meine Pflicht ansehe, in der derzeitigen Situation ehrenamtlich tätig zu sein, oder ob es einfach eine Reaktion auf meinen Vater ist. Ich hoffe sehr, es ist das Erste.«
»Ja, aber was hat Ihre Mutter mit dem Ganzen zu tun?«, fragt Koula.
»Meine Mutter ist stolz auf meinen Vater und klatscht ihm Beifall«, entgegnet sie. »In den Augen meiner Mutter tut mein Vater immer das Richtige.«
Erneut spricht sie mich an. »Eine Etage höher ist ein Freund von Ihnen, auf den das ganze Heim Lobeshymnen singt, Herr Kommissar. Seine Generation hat jahrelang bezahlt und tut es heute noch. Die Generation meines Vaters hat immer nur kassiert. Das ist der Unterschied.«
Das Motiv für Theologis’ Ermordung könnte hier liegen. Doch wie soll ich im Tempel der Heuchelei, wie Loukia die Hochschule nennt, an die Leute herankommen? Wer wird sich auf ein Gespräch einlassen? Diejenigen, die zur gleichen Spezies wie Theologis gehören, werden seinem Heiligenbild nur weitere Pinselstriche hinzufügen. Und die Übrigen werden – aus Angst, ins Fettnäpfchen zu treten – den Mund halten.
»Kennen Sie jemanden, der mir Genaueres über die Laufbahn Ihres Vaters erzählen kann?«, frage ich Loukia.
»Ja, Stelios Kasantsis«, antwortet sie prompt.
»Wo kann ich ihn finden?«
»Unter den Obdachlosen, die sich am Flughafen aufhalten«, erwidert sie und genießt meine überraschte Reaktion sichtlich. »Es gibt eine Gruppe Wohnungsloser, die am Flughafen Unterschlupf gefunden hat«, erklärt sie mir. »Eine Art blinde Passagiere.«
»Und woran erkenne ich ihn?«, hake ich nach, während ich mir den Namen notiere.
»Wenn Sie in die große Eingangshalle kommen, wo die ganzen Einkaufsläden sind, gehen Sie zu den beiden Selbstbedienungsrestaurants. Das eine ist Grigoris, und gegenüber liegt das Rizzata. Auf den Sitzen zwischen den beiden Lokalen werden Sie einen älteren Herrn sehen, der einen altmodischen Zweireiher mit Krawatte trägt. Das ist Herr Safiris. Dem sagen Sie, dass Sie von mir kommen, dann führt er Sie zu Kasantsis.«
Ich spiele mit dem Gedanken, eine Etage höherzugehen und Sissis hallo zu sagen. Doch ich verwerfe die Idee gleich wieder. Könnte sein, dass es Loukia falsch versteht und meint, ich möchte im Hotel herumschnüffeln.
Mit jedem Schritt, den ich vorankomme, entdecke ich etwas Neues – und zwar nicht über den Mörder, sondern über die Schwierigkeit, das Kind einer einflussreichen Persönlichkeit zu sein. Dass ich nur ein einfacher Bulle bin, hat auch sein Gutes: Wenigstens kann meine Tochter im Radio verkünden, dass es noch Hoffnung gibt. Obwohl ihr Vater das bezweifelt. Doch das behält er für sich.
»Warum nehmen Sie mich eigentlich mit, Herr Charitos?«, wundert sich Koula, als wir aus dem Obdachlosenasyl treten. »Im Präsidium vor dem Bildschirm fühle ich mich viel wohler.«
»Sie bringen mir das Recherchieren am Computer bei
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