Achilles Verse
Technik drinnen. Hier ist es nicht mal umgekehrt. Die Sportmedizin liegt in einer Brachialplatte in Lankwitz – könnte auch als Außenbezirk von Bukarest durchgehen. Zur Sportmedizin kurvt man durch Heerscharen siecher Zeitgenossen. Manche sitzen ohne Beine im Rollstuhl am Eingang und rauchen tapfer weiter, als wollten sie auch noch die Arme verlieren. Andere tragen Mundschutz, einfach so. Ich muss husten. Geht schon los. Wie soll man sich hier fit fühlen?
Im vierten Stock residiert Fernando Dimeo. Er war 1993 Deutscher Ärztemeister im Marathon. Der Doktor ist aus Argentinien und hat in etwa das Stockmaß von Diego Maradona, vom Umfang her allerdings höchstens ein Viertel. Ein Mann wie ein Vorwurf: Er wiegt höchstens 50 Kilogramm, die perfekte Renngräte. Ich bin etwa zwei Dimeos, aber nur halb so schnell. Das Läuferleben ist ungerecht.
Die Umkleidekabine ist so groß wie ein Dixi-Klo, dafür steht eine Wanne zum Leichensezieren im Patientenbad. Der Doktor trägt supercoole Adidas-Treter, Rapper-Ware, die sie ihm in Neukölln in 20 Sekunden vom Fuß gezogen hätten. Dimeo sagt poetische Sätze, wie sie Guru Greif nie schreiben könnte: »Training für Marathone isse ganze einfach: viele lange Läufe auffe dere Straße unde nichte so snelle. Marathone iste wie die Ssuppe. Besteht ssu über 90 Prozente aus Wassser. Lange Läufe sinde das Wassser in der Ssuppe. Der Reste iste nichte so wichtig, nure Wasser. Zu wenige Wassser, dann bekommen wir Gulasche oder Eintopfe.«
Ich soll mich obenrum freimachen. »Nichte dene Bauche einziehen«, befiehlt der Doktor. Welchen Bauch denn? Ich habe schon vier Kilogramm abgenommen. »Ihre Rückenmuskeln sinde verkürzte«, diagnostiziert Dimeo, »unde die Bauchemuskeln zu schwache.« Na danke. Werfe ich dem Weißkittel 110 Euro in den Rachen, damit er mich mentalmäßig fertig macht? »Isse nichte so schlimme«, sagt er, »da haben wir eine Gymnastikprogramme.« Der Doktor kennt meine verborgensten Dehnsüchte.
Endlich aufs Laufband. Wie früher bei Rudi Carrell. Ich bin das Fragezeichen. Was mag von mir übrig bleiben? Die aparte Assistentin nestelt gekonnt an meinem Ohr herum. Sie will Blut, mit möglichst viel Laktat. Dann zurrt sie mir eine Gummimaske über den Kopf. Legt mir einen Brustgurt an. Fesselt mich mit einem Bauchriemen. Hilfe! Fehlt nur noch, dass sie mir eine Dieter-Baumann-Maske überstreift. Und ein Kenia-Trikot aus schwarzem Latex. Und dann fallen sie über mich her.
»Die ersten drei Minuten acht Stundenkilometer«, sagt die sachliche Assistentin, »ist das okay?« Natürlich ist das okay, Kleines. Ich bin doch kein gottverdammter Walker. Ich laufe rhythmisch, mein Atem geht ruhig, jede Zahl auf dem Computer signalisiert Kraft, Anmut und Ausdauer. Kurze Pause, das Laktat-Luder piekt ins Ohr, dann zehn Stundenkilometer. Ich federe. Pause. Pieken. 12 Stundenkilometer. Es geht gut los. Aber nach einer Weile wird es unangenehm. Ich schiele auf den Rechner. Erst 48 Sekunden. Die Maske kneift. Es riecht nach Autoreifen. Die Sekunden wollen nicht verschwinden. Aber der Streetfighter Achilles beißt sich durch.
Der Schweiß läuft, die Assistentin piekt und beschleunigt das Band auf 14 Stundenkilometer. Sie sieht aus, als ob sie das gern macht. Das wäre Monas Traumjob: ich auf dem Band und sie dreht immer schneller. Ich wetze wie ein Hase. Luft. Die Laktat-Produktion hat sich auf den ganzen Körper ausgedehnt. Ich überlege, wie man jetzt überzeugend einen Muskelfasserriss vortäuschen könnte? Eher mit einem lauten »Aahhh« oder besser durch ein kurzes gedrungenes »Ümpf«? Noch 20 Sekunden. Geschafft. Lunge, komm bald wieder.
In Sekundenschnelle gepiekt. Was früher eine Pause war, ist jetzt ein Hauch. Ich hechele. 16 Stundenkilometer. Das Band rumpelt. Genau mein Infarkttempo. Es läuft los und reißt mich mit. Los, Achilles, keine Schwäche, zieeehhh! Ich sauge die Gummimaske komplett leer, aber es kommt keine Luft mehr rein. Atemnot. Ich muss sterben. Ich reiße mir das verdammte Stinkeding vom
Kopf. Wortlos beobachtet die Assistentin einen gescheiterten Mann und piekt ihm ungerührt ins Ohr. Ich suche die sanitären Anlagen auf. War ich gut? Na ja. Schlecht war ich nicht.
Das bestätigt auch die Diagnose vom Doc Dimeo. Er hat mir sehr viele spannende Dinge über mich verraten, manche waren nicht mal peinlich. Aber sie werden mein Geheimnis bleiben. Der Tag der Wahrheit kommt.
Laktatsachen
Bedenkt man, was der Läufer im Jahr so alles ausgibt, um
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