Airport-Klinik
– Oh ja, und so hatte Evi Borges in den vergangenen zwei Jahren so oft, wie sie konnte, Connors-Hill, eine kleine, verschlafene Strand-Siedlung zwischen Los Angeles und San Diego aufgesucht.
Nun war es zum letzten Mal gewesen. Niemals wieder würde sie von Chris' Terrasse über das Meer sehen, niemals mehr am Strand entlangrennen. Nie mehr … Vorbei!
»Was geschieht, ist gut«, hatte Chris gesagt.
Er hatte recht. Nur wußte sie nicht, ob sie Erlösung oder nur Trauer empfinden sollte. Sie war wie von sich selbst getrennt. Lächeln! Was sonst? Mit ihrem gläsernen Lächeln auf dem Gesicht brachte sie auch dem Passagier Joaquin Caldas eine Zeitung an den Sitz 15-H, einem Fensterplatz.
Es war nichts Besonderes an dem Mann. Vielleicht, daß er ein wenig verschlossen und in sich gekehrt wirkte. Aber er hatte ein sympathisches, braunverbranntes Gesicht und bedankte sich mit einem freundlichen: »Gracias.«
Den Platz neben ihm nahm ab Caracas eine ältere Dame ein. ›Mathilde Werner‹ stand auf dem Ticket. Sie wirkte umsichtig, freundlich, gelassen; wie ältere Damen wirken, die viel fliegen. »Ach nein, bemühen Sie sich nicht, meine Liebe!« sagte sie zur Stewardeß. »Ich verstaue meinen Kram schon selbst. Wissen Sie, ich mach das jedes Jahr zweimal. Meine Kinder und Enkel wohnen in Caracas. Und soll ich Ihnen sagen, wie lange schon? Sie werden's nicht glauben! Seit dem Jahre 1961. Ach, das waren Zeiten … Da bekam man noch Porzellangeschirr. Da flogen die Constellations, man lernte Lissabon kennen und die Azoren. Dauerte ja auch vierundzwanzig Stunden, so ein Flug. War so richtig gemütlich. Aber da waren Sie ja noch gar nicht auf der Welt …«
Und Evi Borges nickte. Sie war in einer Verfassung, in der sie zu allem genickt hätte. Und gelächelt.
Auch der Mann am Fenster lächelte. Dann schloß er die Augen und lehnte sich zurück. Es war wirklich nichts Auffälliges an ihm.
Die Filmleinwand des Bordkinos erlosch. Wer wollte sich um diese Nachtzeit denn Filme ansehen? Die Crew hatte noch ein leichtes Essen serviert. Vereinzelte Lichtpünktchen der Leselampen sprenkelten das Halbdunkel in der Kabine. Im vordersten Teil, der Business-Class, der in den Bug der Maschine mündete, war noch eine Runde Unentwegter beim Skat. Manche hatten Rotwein bestellt, um sich so leichter in jenen Dämmerzustand hinüberzuretten, der auf Langstrecken-Flügen ›Schlaf‹ genannt wird. Schließlich herrschte Stille.
Evi Borges saß auf ihrem Platz an der Galley, einem der sechs großen Bord-Proviant-Containern, die wie breite Säulen den fast siebzig Meter langen Kabinenraum des Großflugzeuges trennten. Sie konnte nicht schlafen, konnte auch nichts anderes denken, als einen Namen! Chris! Armer, lieber Chris … Warum nur? – Dann sagte sie es sich wieder! Es ist gut. Alles, was geschieht, ist gut …
Und noch etwas sagte sich Evi Borges: Jetzt kannst du endlich in Frankfurt mit Fritz Hansen über Chris reden. Oder es zumindest versuchen. Wenn es einen gibt, der nachempfinden kann, was geschah, dann ist es Fritz!
»Chris hatte einen schönen Tod«, hatten sie ihr in Los Angeles gesagt. »Er hat die ganze Zeit gelächelt. Und er hat immer wieder von dir geredet …«
Zwischen Sternen und Meer zog die ›Hessen‹ ihren Nacht-Kurs. Nordosten, Atlantik, Europa …
Es war kurz nach vier Uhr, als Mathilde Werner aus einem undeutlichen Traum erwachte: Eine Kirche. Sie war noch ein junges Mädchen. Und irgend jemand sprach. Der Priester? Ein leises Gemurmel … dann Unruhe …
Sie schrak hoch.
Sie hatte einen leichten Stoß an ihrer Schulter gespürt. Natürlich, der Mann, der schon in Caracas im Flugzeug saß. Er sprach spanisch, war ja Südamerikaner. ›Bogota‹ hatte sie an seinem Handgepäck gelesen. Ein Kolumbianer also?
Aber was war nur mit ihm? Und was er sprach, das war doch jetzt nicht spanisch? Latein war das, stoßweise, kurz. Vornüber gebeugt hing der Mann in seinem Sitz … »Ave Maria«, hörte Mathilde Werner. Dann: »La bénédiction del nuestro señor Jesus …« Er betete.
»Hören Sie mal. Entschuldigen Sie. Escucha …«
Nach dreißig Jahren Südamerika-Besuchen lernt man spanisch. »Hören Sie, Señor? Darf ich etwas fragen? Fühlen Sie sich vielleicht nicht gut?«
Sie bekam keine Antwort.
»Ich will mich ja nicht aufdrängen – aber vielleicht fliegen Sie zum ersten Mal? Ich kenne sowas. Vielleicht sollten wir die Stewardeß rufen?«
»Gracias«, hörte sie, »danke.«
Mehr fiel ihm wohl
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