Alasea 01 - Das Buch des Feuers
Menschen hatten sich seit Jahrhunderten nicht mehr in dieses Gebiet vorgewagt. Die Schädel der letzten von ihnen schmückten immer noch die Trommelkammer der Krieger. Also versuchte Tol’chuk, seine Zunge dazu zu bringen, die angebrachten Worte zu bilden. »Wer sein ihr?« wiederholte er. »Was suchen in unser Land?«
Die einzige Antwort, die er auf seine Frage bekam, war ein tiefes Knurren von Seiten des Wolfs - keine echte Drohung oder Herausforderung, sondern eine zurückhaltende Warnung.
Tol’chuk spürte aus der Antwort des Wolfs, dass die beiden keine bösen Absichten gegen ihn hegten. Aber er wusste auch, dass ihre Begegnung hier kein purer Zufall war. Diese Begegnung war bewusst herbeigeführt worden.
»Habt nicht Angst«, sagte er ruhig und bedächtig. »Kommt. Sprechen.«
Seine sanften Worte verwirrten den Wolf offenbar. Tol’chuk sah, wie der Wolf einen Blick nach hinten in die dunkle Höhle unter dem Felsvorsprung warf. Als die Augen des Wolfs sich wieder auf ihn richteten, bemerkte Tol’chuk etwas Seltsames. Die Augen des Wolfs, wie Bernstein schimmernd, hatten schlitzförmige Pupillen wie die seinen - etwas so Ungewöhnliches für einen Wolf wie Tol’chuks Augen für einen Og’er. Tol’chuk spürte außerdem eine Intelligenz hinter diesen strahlenden Augen, die der seinen ähnlich war.
Plötzlich formten sich merkwürdige Bilder in Tol’chuks Kopf, als ob er sich an einen Traum erinnerte.
Ein Wolf grüßt einen anderen Wolf Nase an Nase. Willkommen im Rudel.
18
Mogwied verharrte kauernd tief unter dem Felssims. Ferndal musste sich während des Kampfes mit dem Schnüffler den Kopf an einem Stein angeschlagen haben. Die Kreatur da draußen war kein Si’lura. Er scheute das Risiko, näher hinzugehen, um sich die Augen des Og’ers genauer anzusehen, wozu ihn Ferndal eindringlich aufforderte. Er war nicht bereit, sich dem Wesen auf Armeslänge zu nähern, sondern fest entschlossen, sich lieber so lange versteckt zu halten, bis er verhungert wäre, anstatt sich der Gefahr auszusetzen, sich die Gliedmaßen zerfetzen zu lassen, wie es dem Schnüffler geschehen war.
Aber die nächsten Worte lenkten ihn ab. »Wie kommt, dass Gedanken von dein Wolf in mein Kopf sein?« fragte der Og’er mit einer Stimme, die sich anhörte, als steckten knirschende Steine in seiner Kehle. »Was Trick sein das?«
Der Og’er konnte Ferndal hören? Mogwied kroch fast gegen seinen Willen nach vorn, gerade weit genug, um aus seinem Unterschlupf hinausspähen zu können. Der Regen hatte aufgehört, und ein paar Auflockerungen in der Bewölkung erhellten die Landschaft. Er sah zu dem Og’er hinüber, der nur ein paar Schritte von ihm entfernt stand. Ein lauernder Ausdruck umwölkte die steinernen Züge des Og’ers. Mit nichts als einem ledernen Lendenschurz und einem Beutel angetan, der mit einem Riemen an seinem Bein befestigt war, hockte er auf den Hinterbacken zwischen den Überresten des Schnüfflers. Er sah aus wie die Zeichnungen, die er von Og’ern gesehen hatte, wirkte aber nicht ganz so missgestaltet. Vielleicht waren die Zeichnungen übertrieben gewesen. Dies war der erste Og’er, den er jemals zu Gesicht bekommen hatte - falls es überhaupt ein Og’er war.
Er sah die schlitzförmigen Augen. Ferndal hatte Recht. Vielleicht doch ein Si’lura - aber dieses Geschöpf war riesig. Si’lura konnten ihre Masse nicht vermehren, wenn sie die Gestalt wandelten. Fleisch war Fleisch. Das Gewicht eines Si’lura blieb dasselbe, welche Gestalt auch immer er sich aussuchte: Reh, Wolf, Bär, Mensch, Felsadler. Die Masse eines Si’lura blieb immer dieselbe.
Ferndal schaute zu Mogwied. Die Augen seines Bruders funkelten vor Neugier. Ferndals Gedanken drangen in Mogwied ein. Ein Wolf erkennt das Heulen seines Rudels.
Dann spürte der Og’er also tatsächlich die Berührung seines Bruders! Mogwied kroch weiter vor. Wie war das möglich? Der Og’er hatte bestimmt das Dreifache ihres Gewichts. Kein Si’lura hatte jemals auch nur annähernd eine solche Größe erreicht.
»Komm heraus, Kleiner. Hab nicht Angst. Ich dich nicht auffressen.«
Mogwied stellte fest, dass die Augen des Og’ers ihn in dem dunklen Schatten entdeckt hatten. Der Og’er blickte ihn jetzt unvermittelt an. Sein Sehvermögen musste hervorragend sein, besonders ausgeprägt durch das Leben in den Höhlen.
»Komm!« Die Stimme dröhnte.
Mogwied blieb, wo er war, immer noch teilweise hinter Ferndals Körper versteckt. Aber die
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