Alasea 01 - Das Buch des Feuers
Bol hob die schmuckvolle Schatulle nicht heraus, sondern bewegte nur den Deckel an den Scharnieren. Auf einem violetten Seidenkissen lag ein Dolch, älter als irgendein Gebäude im Tal, älter als die Erinnerungen der meisten Leute.
Bevor Angst seine Hand lähmte, ergriff Bol den Griff des Dolches und hob ihn aus der Schatulle. Er hielt ihn ins Licht des Feuers. Die schwarze Klinge schien das Licht in sich aufzusaugen, während eine goldene Rose, die in den Griff eingraviert war, das Feuer mit blendender Helligkeit spiegelte.
Tränen stiegen ihm in die Augen, während er den Dolch in der Hand hielt, doch seine Hand zitterte nicht. Bol kannte seine Pflicht. Er war der Bruder seiner Schwester.
»Vergib mir, Elena«, flüsterte er in den leeren Raum hinein.
20
Ein freudiger Jauchzer entrang sich Elenas Kehle, als sie zu dem Pferd rannte, das unter den Ästen der Weide stand. »Oh, Nebelbraut, du bist noch da!« Sie schlang die Arme um den Hals des Pferdes und sog den vertrauten Geruch der Stute ein, eine Mischung aus Heu und Moschus. In der Scheune ihrer Eltern hatte es immer genauso gerochen. Sie umarmte das Pferd noch inniger und schloss die Augen - in einer ganz entfernten Weise war sie wieder zu Hause.
Nebelbraut wieherte und stieß sie sanft weg; ihre Lippen schnappten nach ein paar zarten Pflänzchen, die in ihrer Nähe sprossen, ganz offensichtlich unbeeindruckt von der Tatsache, dass Elena zurückgekommen war. Das vertraute Schnauben trieb dem Mädchen die Tränen in die Augen.
Er’ril sprach hinter ihr, aber seine Worte waren an Kral gerichtet. Elena schenkte ihm keine Beachtung, immer noch zufrieden damit, dass ihre Hände auf Nebelbraut lagen. Das Pferd stand ungerührt da: kräftige Muskeln, feste Knochen und grobes Haar. Die Stute war nicht verschwunden.
»Kral«, fuhr Er’ril fort, »sei vorsichtig! Hol einfach nur unsere Sachen und die Reittiere vom Gasthaus und komm gleich wieder hierher zurück.«
»Niemand wird mich aufhalten. Was geschieht mit dem Gefangenen?«
»Binde ihn fürs Erste an den Baum.«
Bei Er’rils Worten presste Elena die Lippen zusammen und band Nebelbraut von dem Stamm der Weide los.
»Mädchen, was tust du da? Lass das Pferd, wo es ist.« Er’rils Stimme überschlug sich fast vor Ärger.
»Ich möchte nicht, dass dieser Mann in die Nähe von Nebelbraut kommt.« Sie zog an Nebelbrauts Halfter und führte die Stute an den Rand des Vorhangs aus Zweigen. Nebelbrauts Anwesenheit stärkte ihr Selbstvertrauen. Obwohl sie so viel verloren hatte, besaß sie immer noch ihre Stute. »Und außerdem heiße ich Elena, nicht Mädchen!«
Ni’lahn trat zu Elena, und ein belustigtes Lächeln umspielte ihre Lippen; ihre veilchenfarbenen Augen und das honiggelbe Haar fingen Lichtspritzer auf, die zwischen den Zweigen hindurchfielen. Angesichts dieser Schönheit stockte Elena der Atem. In der Stadt war ihr die kleine Frau ein wenig unscheinbar vorgekommen, aber hier draußen unter den Bäumen blühte sie auf wie eine Waldblume. Elena hätte schwören mögen, dass sich sogar die Äste der Weide bewegten, um Ni’lahns Schönheit funkelnde Lichter von Sonnenstrahlen aufzusetzen.
»Das ist eine hübsche Stute«, sagte Ni’lahn.
Elena senkte den Blick auf ihre Fußspitzen, beschämt von ihrer eigenen derben Erscheinung. Aus der Nähe roch Ni’lahn sogar nach Honigtau. »Danke«, sagte Elena dümmlich. »Ich habe sie schon als Fohlen aufgezogen.«
»Dann müsst ihr beide euch sehr nahe stehen. Ich bin froh, dass du uns hierher führen konntest und wir sie gefunden haben.« Ni’lahn bot Nebelbraut einen Apfel aus dem Vorrat an, den sich alle vor Verlassen der Stadt noch schnell zugelegt hatten. Nebelbrauts Ohren zuckten vor Entzücken nach hinten, und sie schnappte den ganzen Apfel mit ihren dicken Lippen.
»Nebelbraut! Wo bleiben deine guten Manieren?«
Ni’lahn lächelte nur. »Elena, findest du den Weg zu deinem Onkel genauso leicht, wie du hierher gefunden hast?«
»Ja, er wohnt im nächsten Tal. Wintershorst, oben bei den alten Ruinen.«
»Was sagst du da?« Er’rils Miene drückte Entsetzen aus. Kral hatte sich bereits auf den Weg in die Stadt gemacht, und Er’ril war gerade damit fertig, Rockenheims Fesseln und den Knebel zu prüfen. Er trat zu Elena. »Wo, sagst du, wohnt er?«
Ni’lahn legte Elena die Hand auf den Unterarm. »Sie sagt, er wohnt irgendwo in der Nähe von alten Ruinen. Kein Grund, die Stimme so laut zu erheben.«
Der Schwertkämpfer
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