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Albach und Mueller 01 - Russische Seelen

Albach und Mueller 01 - Russische Seelen

Titel: Albach und Mueller 01 - Russische Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bronnenmeyer
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sich weniger den Schranken ihres Bewusstseins unterworfen. Die Seele schien sich ein klein wenig über die engen körperlichen Grenzen auszubreiten und es war an der Zeit, nicht mehr an die Arbeit zu denken, aufgeschnittene Brustkörbe, Schmauchspuren, Geschosskaliber, Aussagen und Motive zu verdrängen. Oder auch neu zu sortieren – warum nicht?
    Renan fand es immer wieder erschreckend, wie sehr sich Menschen über ihre Berufe definierten. Sie beobachtete dieses Phänomen schon lange: auf Partys, Klassentreffen, beim Smalltalk im Urlaub. Auf die Frage »Und, was machst du so?« antwortete man automatisch mit der Berufstätigkeit. »Ach, ich bin jetzt Projektleiter in der Firma soundso«, »Ich habe noch ein Aufbaustudium draufgesattelt und bin gerade in so einem Trainee-Programm«, »Mein Chef hat mich letztes Jahr nach China geschickt«, »Ich bin jetzt auf der Geburtsstation« – »Ich suche gerade einen brutalen Schlächter mit perversem Hang zu Amputationen am noch lebenden Opfer«. Es gab manchmal Momente, in denen sie sich derartige Antworten nicht verkneifen konnte, und sei es nur, um einen Kontrapunkt zu setzen. Es schien den Menschen immer schwerer zu fallen, etwas anderes zu tun, als Geld zu verdienen. Renan hatte dies erschrocken an sich selbst diagnostiziert, als sie vor zwei Jahren einen Auffrischungskurs Türkisch an der VHS besuchte. Sie hatte ihre Muttersprache – im wahrsten Sinne des Wortes – nie so richtig beherrscht und sich in den Kurs eingeschrieben, um ihren spärlichen Wortschatz nicht vollends verkümmern zu lassen. In der anfänglichen Konversation hatte die Dozentin ihre Schüler gleich in ausgedehnte Gespräche getrieben und gezielt nach Hobbys oder Beschäftigungen am Wochenende gefragt. Mehr als schwimmen gehen und ab und zu mal ein Buch lesen hatte Renan dazu nicht beizutragen und auch diese Wörter waren ihr nicht auf Türkisch eingefallen.
    Ihre Mutter, Gülten, hatte sich vor fast dreißig Jahren mit einem jungen Türken eingelassen, der kurz nach Beginn der Schwangerschaft auf Nimmerwiedersehen verschwand. Ihre Mutter sah damals keinen anderen Ausweg, als von zu Hause abzuhauen, wollte sie nicht schnellstmöglich mit einem anderen verheiratet werden, dem man dann das Kind als seines untergeschoben hätte. »Türkische Jungen wissen doch nicht, ob es sechs oder neun Monate dauert, bis ein Kind zur Welt kommt«, soll Gültens Mutter mit einem Seitenblick auf ihren Vater gesagt haben. Also war sie durchgebrannt, hatte Renan anonym in einer Notaufnahme zur Welt gebracht und kurz darauf in einem Mutter-Kind-Heim den Zivildienstleistenden Erwin Müller kennen gelernt, den sie zwei Jahre später heiratete. Seitdem hatte Renan einen Vater und einen deutschen Pass. Gülten bemühte sich, alles Türkische von ihrer Tochter fernzuhalten, was Renans Interesse für ihre Abstammung nur verstärkt hatte. Vor allem als Teenager hatte sie fast schon nationalistische Anwandlungen. Sie wollte mit ihrer Mutter jedes Jahr in die Türkei fahren und auf den Spuren ihrer Ahnen wandeln, sie wollte den Schulterschluss mit ihrem Volk suchen. Diese Sehnsucht blieb jedoch schon aus finanziellen Gründen unerfüllt, heute kam sie ihr geradezu lächerlich vor. Es war mehr als ein Trugschluss, seine Identität an einer Nation festzumachen. »Die Türken« gab es nicht. Besonders deutlich wurde das hier, in der Fremde. Es gab Jungunternehmer und Obsthändler, Ärzte und Dönerbudenbesitzer, Arbeitslose und Facharbeiter, Popstars und Kopftuchträgerinnen, Ingenieurinnen genauso wie radikale Moslems.
    »Zu welchen willst du gehören?«, hatte Erwin sie eines Abends gefragt, nachdem sie sich mal wieder bis aufs Blut mit ihrer Mutter gestritten hatte. Er war mit ihr in den Hinterhof ihres kleinen Hauses gegangen und hatte sich dort neben sie auf die Treppe gesetzt.
    »Da ist was in mir drin, Erwin«, hatte sie gesagt und schwer mit den Tränen gekämpft, »ich kann es nicht ignorieren und Mama will nicht, dass ich mich damit beschäftige. Aber das ist falsch!«
    »Schau mal«, hatte er geseufzt und den Arm um sie gelegt, »deine Mama hat mit ihren Leuten sehr viel durchgemacht. Sie ist damals auf und davon, weil sie sich und vor allem dich schützen wollte. Die hätten sie in die Türkei zurückgeschickt, in irgendein Dorf am Arsch der Welt. Du wärst mittlerweile gegen deinen Willen verheiratet worden, könntest kaum lesen und schreiben und wärst gerade mit dem dritten Kind schwanger.«
    »Aber es gibt doch

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