Aldebaran
Todesangst. Trotz seiner Liebe für sie. Dass die Liebe mit zwanzig nicht stärker ist als der Tod. Die Lust zu leben, war egoistisch. Man hatte nur das im Leben: das Leben selbst. Und die Welt war weit und voller Freuden. Wie oft konnte man in einem Leben lieben, wahrhaftig lieben? Wie viele Frauen auf der Welt ähnelten Amina? Waren genauso schön? Er müsste ihr auch sagen, dass er nie an ihr gezweifelt hatte. Dass er sich Sorgen um sie gemacht hatte, ja, das ja, er hatte sich Sorgen um sie gemacht. Sogar später noch, als die Stainless Glory wieder auf hoher See war. Die älteren Seeleute an Bord hatten sich über ihn lustig gemacht. Nicht über das, was ihm passiert war, nein, das hatte er niemandem erzählt. Sondern weil er ihnen nicht mehr mit Amina in den Ohren lag, Amina hier, Amina da, wie er es vorher getan hatte, kaum dass sie Marseille verlassen hatten.
Vierzehn Tage Trennung, und der Arme verlor den Verstand. Das munkelten sie untereinander. Sie lachten darüber. Nicht über ihn, über sie. Solche Geschichten über diese Schlampen kursierten in allen Häfen. Samt allen Zweifeln und Sorgen in Bezug auf ihre eigenen Frauen. Denn einmal auf See, konnte man sich auf gar nichts mehr verlassen.
Zu Anfang wurde Diamantis laut, protestierte, verteidigte Amina, erfand einen Haufen Geschichten. Sie neckten ihn noch mehr. Schließlich hielt er den Mund, und das Leben an Bord nahm wieder seinen normalen Lauf. Er gab sich ihm aus ganzem Herzen hin, ohne Amina jedoch aus seinen Gedanken zu verdrängen. Aber er musste versuchen, die Bilder der Schlägerei zu vertreiben, hinter denen Aminas Gesicht mehr und mehr verblasste. Eines Nachts fiel ihm auf, dass der Gedanke an sie ihn nicht mehr körperlich erregte. In ihm war nur noch Erniedrigung. Pisse und Scheiße.
Zwölf Tage später, als die Stainless Glory wieder in Marseille festmachte, wagte er sich bis zu Amina vor. Bei helllichtem Tage. Aber sehr sicher war er seiner Sache nicht. Ihr Namensschild war von der Eingangstür verschwunden. Er hakte nicht nach. Er bummelte hierhin und dahin. In die Bar, in der sie sich kennen gelernt hatten. In die anderen Kneipen, in denen sie gewesen waren. Aber immer hatte er ein oder zwei Kumpane von Bord dabei. Er sah sie nie wieder.
Dann war sein Vater gestorben. Und da war Melina gewesen. Melinas Liebe. Der Traum vom Leben in Agios Nikolaos. Melina half ihm zu vergessen. Amina und seine Erniedrigung zu vergessen. Eines Nachts hatte er ihr alles erzählt. Melina hatte ihn geweckt, weil er im Traum geschrien hatte.
»Wer ist Amina?«, hatte sie gefragt.
Sie sprachen oft darüber. Manchmal endete es in einem Streit. Weil er keine seiner Erinnerungen an Amina preisgeben wollte. Aber, erklärte Melina ihm, solange er nicht losließ, würde er im Griff dieser Angst bleiben, die er durchgemacht hatte und die noch schlimmer war als die Erniedrigung selbst.
Langsam nahm Melina ihm die Angst und lehrte ihn wieder zu lieben. Sie war eine starke Frau, realistisch, energisch. Außerdem war sie eine traumhafte Geliebte. Man konnte nur ein einziges Mal im Leben lieben, meinte sie, alles andere blieben Anekdoten. Und Diamantis war der Mann, den sie liebte. Und er würde immer der Einzige sein. Was auch geschehen möge.
Es war anders gekommen, mit ihr und ihm. Mit ihrem gemeinsamen Leben. Gegen das Meer war sie machtlos. Das war ihr klar geworden, als er ihr im Stil seines Vaters schrieb: »Wir haben die Säulen des Herkules hinter uns gelassen, die Landspitze, wo Antäus sein Leben ließ …« Dahinter war der Ozean.
Diamantis hatte sich schließlich dem Mittelmeer verschrieben. An dem Tag, an dem er sich endlich erwachsen fühlte, war er in See gestochen. In all den darauf folgenden Jahren vergaß er nie, dass er das, was er war, dieser Frau verdankte. Melina. Ihr verdankte er auch das Schönste auf der Welt: Mikis. Ihren Sohn. Wie eine Brücke zwischen den Meeren, die sie beide für immer verband.
Diamantis ging zügig. Als er aus dem Mas kam, war er auf ein letztes Glas im Samaritaine an der Ecke am Alten Hafen eingekehrt, bevor er auf die Aldebaran zurückkehrte.
Er war in die Rue de la République eingebogen. Ganz am Anfang an der Place de la Joliette war ein Taxistand. Von dort kostete es etwa fünfzig Francs bis zu Tor 3 A. Manchmal nahm ein Fahrer ihn bei Feierabend gratis mit. Alle Fahrer, die regelmäßig hier stationiert waren, kannten die Geschichte der Aldebaran.
Die Gedanken überstürzten sich in seinem Kopf. Er
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