Alera 01 - Geliebter Feind
Und auch wenn in fast allen Kaminen des Palastes Feuer brannten, fiel die Temperatur innerhalb der Mauern beständig. Ich zog einen wärmenden Schal enger um meine Schultern, um mich vor der Kälte zu schützen.
Als wir die Bibliothek betraten, fiel mein Blick auf Narian, der in einem der Sessel vor dem Feuer saß. Er schien in ein Buch vertieft. Das Licht der Flammen warf zitternde Schatten auf sein Gesicht und ließ sein blondes Haar rötlich schimmern. Er hob den Kopf, stand auf und sah mich beinahe hoffnungsvoll an, doch dann bemerkte er Destari und London und sein Gesicht nahm einen verschlossenen Ausdruck an.
»Prinzessin Alera«, sagte er nur und nickte höflich.
Nachdem ich ihn inzwischen bereits einige Male ohne seine aufgesetzte Distanziertheit erlebt hatte, hasste ich es, wenn er sich hinter dieser Maske verbarg. Trotzdem verstand ich natürlich, dass es Förmlichkeiten zu beachten galt, solange andere Personen anwesend waren, insbesondere wenn es sich um die beiden Gardisten handelte, die uns jetzt Gesellschaft leisteten.
»Guten Abend, Lord Narian«, sagte ich und war mir der gespielten Natürlichkeit so bewusst, dass jedes einzelne Wort und jede Bewegung sich seltsam anfühlten. »Gefällt Euch das Leben im Palast?«
»Ich bin sehr gut untergebracht, fühle mich jedoch ein wenig eingeschränkt.«
Weil mir nicht ganz klar war, von welcher Art Einschränkungen er redete, fragte ich: »Vermisst Ihr Eure Familie?«
»Nein, ich habe sie zuletzt vor dem Turnier gesehen. Doch ich vermisse es, in der Natur zu sein. Ich vermisse die körperliche Aktivität.«
Mir fiel ein, wie ich vielleicht ein wenig Zeit mit ihm verbringen konnte, in der er nicht so stark überwacht werden würde.
»Vielleicht habt Ihr Lust, uns bei der Vorbereitung des Palastes auf das Weihnachtsfest zu helfen. Wir hängen innen und außen Stechpalmen-, Mistel- und Efeuzweige auf und …«
»Ich glaube nicht, dass das die Sorte Aktivität ist, die er vermisst, Alera«, mischte London sich ein und lehnte sich links vom Fenster an die Wand neben den Bücherregalen. »Wenn du ihn danach fragst, wird er dir sicher erzählen, dass er tägliches Training und Exerzieren gewohnt ist. Wenn man zu lange ohne Übung ist, kann man seine Schneidigkeit verlieren.«
Narian musterte London kühl, allerdings hatte sich auf seiner Stirn eine kleine Falte gebildet. Ich schloss kurz die Augen und hoffte, London würde es damit gut sein lassen. Doch das tat er natürlich nicht.
»Ich könnte dein Training fortführen«, bot er mit ruhiger Stimme an, musterte Narian dabei aber mit Raubtierblick. »Schließlich bin ich mit den Methoden deines Lehrmeisters wohl vertraut.«
Unwillkürlich schnappte ich nach Luft. Destari, der sich zu einem Sessel am Fenster begeben hatte, sah ebenso schockiert drein und hatte die dunklen Augenbrauen staunend hochgezogen. Narian warf erst uns einen Blick zu und sah dann wieder London an.
»Na gut«, bemerkte London in lässigem Ton, zog ein Buch aus dem nächsten Regal und blätterte darin. »Es war nur so eine Idee.«
Obwohl alle im Raum ihn anstarrten, blieb Londonbemerkenswert ruhig. Wieder einmal bewunderte ich seine Haltung. Er hatte seine Leidenszeit in Cokyri noch nie zuvor erwähnt und uns soeben wie nebenbei zu verstehen gegeben, dass er dem Overlord nicht nur begegnet war, sondern auch einiges über dessen Methoden und Narians Ausbildung wusste. Ich war der einzige Mensch, dem Narian sich anvertraut hatte ; nur ich wusste, dass der Overlord sein Lehrer gewesen war. Nach allem, was London mir vor dem Schaukampf berichtet hatte, hätte ich eigentlich vorhersehen müssen, dass er sich den Rest selbst zusammenreimte. Dass er allerdings verwegen genug war, Narian mit seinen Vermutungen zu konfrontieren, damit hätte ich niemals gerechnet.
»Wegen Weihnachten«, sagte ich zu Narian und hatte auf einmal einen so trockenen Hals, dass meine Stimme heiser klang. »Hättet Ihr Lust, Euch zu beteiligen?«
Narian schien mich nicht gehört zu haben. Sein Blick war von Londons Händen gefesselt, die die Seiten des Buches umblätterten.
»Dieser Ring da gehört Euch nicht«, erklärte er unvermittelt.
London hob seine rechte Hand und drehte den Handrücken nach außen, sodass der Ring am rechten Zeigefinger gut zu sehen war. Auf dem breiten Silberreif waren zwei Paar übereinander angeordnete Kreise zu erkennen, die über schmale ziselierte Verbindungslinien miteinander verbunden waren. Ich starrte ihn an. Es war das
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