Alera 01 - Geliebter Feind
möchte bei dem Verhör dabei sein. Ich sehe nicht ein, warum ich in meine Gemächer verbannt bleiben soll.«
»Aber du musst dort bleiben. Ich werde meine Tochter nicht dem Anblick dieser bösartigen Kreatur aussetzen, die man gleich vor uns bringen wird.«
»Ich bin kein Kind mehr, sondern werde in einem Jahr Königin sein. Außerdem war ich ihr bereits ausgesetzt, denn schließlich war ich diejenige, die im Garten von ihr bedroht wurde. Unter allen hier Versammelten steht es mir daher wohl am ehesten zu, etwas über die Bedeutung dieses Vorfalls zu erfahren.«
Mein Vater, der in Gedanken schon bei seinem Tagesgeschäft war, suchte nach einer Antwort. Er bewegte stumm die Lippen. Und bevor ihm eine Erwiderung einfiel, mit der er mein Ansinnen ablehnen konnte, wurde am anderen Ende des Thronsaals eine Tür geöffnet. Ich wusste, dass man die Gefangene sogleich hereinführen würde.
»Dann bleib«, knurrte er unwillig.
»Danke«, sagte ich, und wir nahmen beide Platz, während London sich hinter mich stellte.
Kade trat durch die Tür, die zum Kerker führte. Ihm folgten zwei Wachen, die die Cokyrierin zwischen sich festhielten. Der Kerker war ein ganz und gar schrecklicher Ort, den ich nur einmal in meinem ganzen Leben besucht hatte, nachdem London bereit gewesen war, die Neugier einer Zehnjährigen zu befriedigen. Es gab dort viele Zellen mit nackten Steinmauern, Lehmböden, dicken Holztüren und winzigen vergitterten Fenstern. Die Dunkelheit wurde nur von ein paar Fackeln an den Wänden der Gänge erhellt, und die feuchte Kälte blieb einem fortan ewig in Erinnerung.
Ich wusste nicht, wie die Frau, die man jetzt vor den König schleppte, ihre Zeit als unsere Gefangene zugebracht hatte. Die Schatten unter ihren Augen zeugten von einer harten Nacht, aber sie wirkte immer noch umwerfend schön. Ihre großen Augen erstrahlten in verschiedenen Grünschattierungen, vom Grünblau einer stürmischen See bis hin zu zartem Frühlingsgrün. Ihr ungekämmtes Haar war dunkelrot und kinnlang. Der goldfarbene Teint verriet, dass sie sich zeit ihres Lebens in der Sonne aufgehalten haben musste. Sie war von Kopf bis Fuß in einen leichten, fließenden schwarzen Stoff gekleidet. Um den Hals trug sie einen ungewöhnlichen silbernen Anhänger: eine schmale, in Gold getauchte Wurzel verbreiterte sich in einem anmutigen Schwung zu sechs einander überlappenden Silberelementen, die mich an vom Wind gebeugte Gräser erinnerten.
»Sag uns, wer du bist«, forderte mein Vater. Er starrte auf sie hinunter und schlug einen grollenden Befehlston an, der Kriminellen und unbotmäßigen Töchtern vorbehalten war.
Die Gefangene, deren Hände vor ihrem Körper gefesselt waren, antwortete nicht, sondern änderte nur ihre Haltung, indem sie sich ein wenig aufrichtete. Sie kniete auf einem Bein und hielt den Kopf, wenn auch vermutlich nicht aus Respekt, gebeugt.
»Antworte, Cokyrierin«, befahl mein Vater erneut, und ich musterte das Schauspiel verwirrt, da es mir überflüssig erschien, die Frau nach ihrer Identität zu befragen.
Sie antwortete immer noch nicht, sondern hob nur langsam den Kopf und begegnete geradezu herausfordernd dem Blick ihres Feindes. Ihre machtvolle Aura war unübersehbar.
»Muss ich dich daran erinnern, dass du dich in unserer Gewalt befindest und wir dich zum Reden zwingen können? Du tätest also gut daran zu kooperieren.«
Endlich sprach Nantilam, und zwar in verächtlichem Ton. »Und du tätest gut daran, mich freizulassen, denn du hast mich weder jetzt noch irgendwann in der Zukunft je in deiner Gewalt, hytanischer Hundesohn.«
Die Beleidigung war kaum an mein Ohr gedrungen, als ich mehr spürte als hörte, wie London vorwärtsstürzte, von dem Podest herunter- und auf die Gefangene zusprang. Mit einem Schlag gegen die Brust streckte er sie nieder. Ich klammerte mich erschrocken an die Armlehnen meines Sessels und fürchtete, sein Hass auf Cokyri habe ihm die Beherrschung geraubt. Mit Schrecken sah ich, wie er sich neben sie auf die Knie fallen ließ und eine seiner Klingen an ihren Hals presste, während sich seine dunkelblauen Augen in ihre angriffslustigen grünen versenkten.
»Woher hatte sie die Waffe?!«
Cannan sprang mit vor Wut zusammengepressten Zähnen ebenfalls vom Podest herunter. Er blieb nebenLondon stehen und zerrte Nantilam auf die Füße. Als auch mein Leibwächter sich aufgerichtet hatte, hörte ich außer meinem laut klopfenden Herzen das Klirren des kleinen Dolches, der aus der
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